Helmut Wiesmann

Bornheim

 

 Marienerscheinungen im Wandel der Geschichte

 

I. Einleitende Bemerkungen zum Umgang mit Marienerscheinungen

 

Das Thema „Marienerscheinungen im Wandel der Geschichte“ dürfte nicht nur religiös Uninteressierten, sondern auch vielen gläubigen Christen als aus der Zeit gefallen erscheinen. Sie mögen dabei an lange zurückliegende Ereignisse in Lourdes oder Fatima denken, in der Regel aber nicht wissen, dass die katholische Kirche sich auch heute - und dies auch in Deutschland - zu der Frage verhalten muss, ob man Behauptungen Glauben schenken kann, die Gottesmutter Maria sei auf Erden erschienen und habe eine Botschaft des Himmels überbracht. Genau darum geht es in den nachfolgenden Ausführungen: Im Jahr 2005 hat der Bischof von Trier offiziell zu Berichten über Marienerscheinungen im saarländischen Marpingen Stellung genommen, die in den 90er Jahre des 20. Jahrhunderts wieder virulent geworden waren, aber auf das Jahr 1876 zurückgehen. Aktuell hofft ein Kreis von Marienverehrern in der kleinen Voreifel-Gemeinde Sievernich auf die kirchliche Anerkennung von Marienerscheinungen, die sich seit über 20 Jahren dort ereignen sollen.[1] Kann der Blick in die Geschichte helfen, einen solchen Vorgang besser zu verstehen? Es zeigt sich, dass Marienerscheinungen ein ernstzunehmendes kirchenpolitisches und auch ein darüberhinausgehendes politisches Potential entwickeln können - ein Potential, das mehr als einmal gezielt entwickelt und sowohl in kirchlichen als auch in politischen Kontexten nutzbar gemacht worden ist. 

 

Mariens Beistand für die Christenheit

 

Marienerscheinungen haben die Christenheit seit der Antike begleitet. Marienlegenden legitimierten Orte der Verehrung oder lieferten eine Erklärung für die Ursprünge eines Kirchenbaus. Schon früh wurde Maria in Zeiten von Not und Bedrängnis um Schutz und Hilfe angefleht. Als im Juli 626 Konstantinopel von den Awaren belagert wurde, ließ Patriarch Sergios „Bilder der Gottesmutter über den Portalen der Landbefestigung anbringen und führte Prozessionen an, in denen ein Acheiropoieton, eine wunderwirkende, nicht von Menschenhand geschaffene Ikone, feierlich über die Mauern geführt wurde“, um die Zuversicht der Belagerten zu stärken.[2] Die Überzeugung, dass die Gottesmutter Hilfe vermitteln kann und dies immer wieder getan hat, prägt die Geschichte Europas. Spanischen legendarischen Überlieferungen zufolge hat Maria die Reconquista in Spanien unterstützt und bei der Eroberung der Reiche der Azteken und der Mayas geholfen. Auch den historisch bedeutsamen Seesieg eines vom Papst organisierten Abwehrbündnisses über die osmanische Flotte bei Lepanto im Jahre 1571 erklärten sich viele Zeitgenossen mit der Hilfe Marias. Eng mit diesem Sieg verbunden ist der Rosenkranz, den zu beten Teil der Botschaften vieler späterer marianischer Erscheinungen wurde. Welthistorische Bedeutung soll nach Überzeugung marianischer Aktivisten die Jungfrau von Fatima haben, weil sie das Ende des Zweiten Weltkriegs und den Zusammenbruch des Kommunismus befördert haben soll.[3] Ähnlich große Bedeutung wird einer Erscheinung 1531 in Mexiko zugeschrieben. Indem Maria nahe der ehemaligen Hauptstadt der Azteken einem Indio erschien, soll sie innerhalb kürzester Zeit die Konversion der indigenen Völker in ganz Neu - Spanien verursacht haben.[4]

 

Die Frage der Authentizität von Marienerscheinungen 

 

Die Zahl der in der Geschichte behaupteten Marienerscheinungen lässt sich nicht feststellen. Eine 1997 veröffentlichte Publikation kommt auf „weit über 900“[5]. Die von marianischen Aktivisten betriebene Internetseite https://www.fatherspeaks.net zählt 1.318. Davon sollen 1.128 auf Europa, 111 auf Amerika, 51 auf Asien, 24 auf Afrika und 4 auf Ozeanien entfallen. Solche Sammlungen können keine Vollständigkeit erreichen. Die Forschungen z.B. über Lourdes, Marpingen, Fatima und Heroldsbach haben gezeigt, dass eine Erscheinung, die ein Mindestmaß an Beachtung oder Anerkennung findet, Konkurrenzerscheinungen am selben Ort und Nachahmungserscheinungen an anderen Orten nach sich zieht. David Blackbourn zufolge „gab es in den letzten anderthalb Jahrhunderten Tausende solcher Fälle allein in Europa“.[6] 

 

Jeder, der sich mit dem Phänomen Marienerscheinung beschäftigt, steht vor der Frage, ob er von einem glaubwürdigen Erscheinungsbericht sprechen will und wie er ihn von einem nicht glaubwürdigen unterscheiden kann. Die dafür von der Kirche entwickelten Kriterien lassen durchaus Interpretationsspielräume. Die Entwicklung von religiös legitimierten Ordnungen des Mittelalters zu den säkularen politischen Ordnungen der Neuzeit wurde im Zuge der Aufklärung und infolge der Französischen Revolution begleitet von einer scharfen Polarisierung zwischen Kirche und Glaube auf der einen und dem Staat und den Wissenschaften auf der anderen Seite. Diese Polarisierung prägte auch die Auseinandersetzung mit Marienerscheinungen, die sich im 19. und mehr noch im 20. Jahrhundert auffallend häuften. Staatliche Repression der Kirche unter dem Deckmantel der Bekämpfung von Aberglauben hat den Glauben an Marienerscheinungen eher gefördert als behindert. Während die Theologie ihren umfassenden Wahrheitsanspruch spätestens in der Aufklärung verloren hat, zeigen sich heutzutage auch die weltlichen Wissenschaften im Hinblick auf die Erkenntnis letzter Wahrheiten bescheidener. Heutige Historiker und Volkskundler richten ihr Augenmerk nicht auf die Frage, ob eine Marienerscheinung wahr ist, sondern sie untersuchen, warum sie geglaubt wird. Vorbildlich in diesem Sinne ist das preisgekrönte Werk des britischen Historikers David Blackbourn über Marienerscheinungen im saarländischen Marpingen. Auch die in Oxford lehrende Historikerin Ruth Harris, die ein überzeugendes Werk über Lourdes veröffentlicht hat, erklärt sich als für die Klärung der Wahrheitsfrage nicht zuständig: „For while I hope that nothing will offend the faith of believers, I cannot engage with the question whether or not Bernadette Soubirous saw the Virgin Mary: it ist not a matter an historian can decide.“[7] 

 

Die Anerkennung von Marienerscheinungen

 

Die Anerkennung von Marienerscheinungen ist nach kirchlichem Selbstverständnis, aber auch nach Auffassung der weltlichen Wissenschaften allein Sache der Kirche. Die Kirche hat die traditionellen Prüfkriterien im 18. Jahrhundert, bekräftigt durch Papst Benedikt XIV., präzisiert und deutlich strenger zur Anwendung gebracht8 als das später im 19. Jahrhundert der Fall war. Gemäß den traditionellen kirchlichen Normen für die Beurteilung von Erscheinungen, die zuletzt 1978 von der Glaubenskongregation formuliert wurden, hat der zuständige Ortsbischof eine Untersuchungskommission einzuberufen, welcher Theologen und ein Pfarrer sowie Psychologen und Mediziner angehören sollen. Unter ihren Prüfkriterien ist im Grunde nur eines der Theologie und dem kirchlichen Lehramt vorbehalten. Dabei handelt es sich um die Frage, ob zwischen einer Erscheinung bzw. der mit ihr verbundenen Botschaft und den Lehren der Kirche Übereinstimmung besteht. Die übrigen Kriterien entziehen sich keineswegs der Kompetenz der weltlichen Wissenschaften. Das gilt insbesondere für die Frage nach der Glaubwürdigkeit der Person, die behauptet, Maria gesehen und gehört zu haben, sowie für die Frage, ob sich Zeichen für das Wirken Gottes finden. Gemeint sind damit Phänomene, die sich nicht auf natürliche Ursachen zurückführen lassen.

 

Das im europäischen Kontext vermutlich bekannteste Bestätigungsereignis für eine Erscheinung Mariens ist das so genannte Sonnenwunder, das sich am 13. Oktober 1917 im portugiesischen Fatima ereignet hat. Dieses damals auf natürliche Weise nicht überzeugend erklärbare kosmische Geschehen „galt für viele als der entscheidende Beweis, dass Maria tatsächlich zu ihnen gesprochen hatte“.[8] Indessen verliert das Kriterium der Übernatürlichkeit angesichts der fortschreitenden Erkenntnismöglichkeiten der Naturwissenschaften seine Überzeugungskraft. So darf beispielsweise im Falle der Marienerscheinung im böhmischen Philippsdorf von 1866, die zu einer Spontanheilung geführt hat und 1926 von Papst Pius XI. mit der Erhebung der dort gebauten Kirche zu einer Basilika Minor approbiert worden war, auf bischöfliche Anordnung nicht mehr von einem Wunder gesprochen werden, seit die deutsche Journalistin Kerstin Schneider, eine Nachfahrin der geheilten Seherin, aufgrund ihrer Recherchen deren psychische Erkrankung als mögliche Ursache aufgezeigt hat, die sowohl die Erscheinung als auch die spontane Heilung erklären könnte.[9]

 

Im Unterschied zu der für alle Gläubigen verbindlichen göttlichen Offenbarung, die mit den Evangelien abgeschlossen ist, spricht die Kirche bei Marienerscheinungen von Privatoffenbarungen. Dieser Unterschied ist von grundsätzlicher Bedeutung. Gemäß dem Katechismus der katholischen Kirche gehört eine Privatoffenbarung per definitionem nicht zum verbindlichen Glaubensgut. An eine Marienerscheinung, welche die kirchliche Anerkennung gefunden hat, darf geglaubt werden, muss aber nicht geglaubt werden. Eine Privatoffenbarung kann der durch die Evangelien verbürgten Offenbarung nichts hinzufügen und auch nichts hinwegnehmen. Der gläubige Katholik darf einer Marienerscheinung gegenüber ablehnend bleiben, auch wenn seine Kirche sie anerkannt und den entsprechenden Verehrungskult empfohlen hat. Während die Approbation in dem von der Aufklärung geprägten 18. Jahrhundert eher der Feststellung entsprach, „dass die Offenbarung dem Glauben nicht schädlich sei“11, konnte sie im 19. Jahrhundert ein Instrument in der Hand der Kirche darstellen, um damit wenn auch nicht die Offenbarung selbst, so doch ihre Interpretation stark zu beeinflussen. Dies gilt vor alle für die Zeit von der Mitte des 19. bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts, die kirchengeschichtlich als das marianische Jahrhundert bezeichnet wird. In dieser Zeit ist der Katholizismus mit Hilfe der Förderung der marianisch geprägten Volksfrömmigkeit geradezu neu erfunden worden.[10]

 

Die Kirche scheint sich der Risiken bewusst zu sein, die sich aus einer leichtfertigen Anerkennung einer behaupteten Erscheinung für die Glaubwürdigkeit ihrer Lehre und ihrer Institution als Hüterin der christlichen Botschaft ergeben können. Von Tausenden behaupteter marianischer Erscheinungen haben lediglich 16 das kirchliche Sigel der Anerkennung erhalten. Die wenigen anerkannten aber vermochten durchaus prägend zu wirken. Dabei ist die kirchliche Anerkennung einer Erscheinung nicht gleichbedeutend mit der Behauptung, dass sie im historisch-empirischen Sinne tatsächlich auch stattgefunden hätte. Im Vorfeld der umstrittenen Kanonisierung von Juan Diego sagte der Abt der Basilika der Jungfrau von Guadalupe in Mexiko während eines Interviews von 1995: „Was ist eine Erscheinung theologisch und biblisch? Sie ist ein inneres Phänomen, das einen Menschen durch die besondere Gnade Gottes etwas sehen lässt, was sonst niemand sieht, und hören lässt, was sonst niemand hört. Er ist der einzige Zeuge seiner eigenen Erfahrung.“[11] 

 

Apologetische Pseudowissenschaft

 

Die Zahl der Veröffentlichungen über Marienerscheinungen ist kaum zu übersehen. Bei einem Thema, das sowohl zentrale Fragen der Weltreligion Christentum als auch das Selbstverständnis aufgeklärter moderner Gesellschaften berührt, kann dieser Befund nicht überraschen. Während seriöse Stimmen, wie gesehen, nicht beanspruchen, über die letzte Wahrheit einer Erscheinung zu verfügen, erwecken manche Apologeten den gegenteiligen Eindruck. So wird z.B. im Blick auf das Sonnenwunder von Fatima geschrieben: „Was immer die Zeugen von Fatima gesehen haben, es stammte aus der Welt des Übernatürlichen.“[12] So etwas lässt sich leicht behaupten, wenn man darauf verzichtet, heute vorhandene naturwissenschaftlich begründete Erklärungen wenigstens zu erwähnen.

 

Bei jeder Sammlung von Marienerscheinungen, die über die wenigen anerkannten hinausgeht, sind zwangsläufig Auswahlentscheidungen zu treffen. In der apologetischen Literatur werden die dafür zugrunde gelegten Kriterien, sollten welche bestehen, nicht transparent gemacht. Das von Robert Ernst für ausreichend erklärte Kriterium der Bekanntheit von „Person, Ort und Jahreszahl“ stellt kein ernsthaftes Bemühen um Unterscheidung zwischen „Legendenbuch“ und „Geschichtswerk“ dar,[13] wenn zugleich die Auffassung vertreten wird: „Marienerscheinungen … rechtfertigen sich betreffs ihrer Echtheit aus sich selbst.“16 Von wissenschaftlichen Sorgfalts- und Nachweispflichten dispensieren sich auch andere Autoren: „Wir nehmen (…) zunächst einmal eine ‚vorwissenschaftlich-naive’ Position ein und dokumentieren das Faktum ‚behauptete Erscheinung.’“[14]. Tatsächlich wird nicht das Ziel verfolgt, die Behauptung einer Erscheinung zu dokumentieren, sondern eine behauptete Erscheinung als Faktum darzustellen. Die Versicherung, man wolle dokumentieren, „ohne einer kirchlichen Entscheidung darüber vorzugreifen“, wird unterlaufen durch massive Kritik an bereits getroffenen Entscheidungen: „Manchmal wurden auch nachweislich vorschnelle, voreingenommene oder aus verschiedenen Gründen unbefriedigende Urteile gefällt, die auf Fehleinschätzungen, Missverständnissen u.s.w. beruhen.“[15] 

 

Nicht überzeugen können auch die empirischen Grundlagen mancher Sammlung. Hierzenberger und Nedomansky etwa haben ihre Erscheinungsberichte Publikationen entnommen, die teilweise von zweifelhafter Qualität sind. Statt diesem Umstand quellenkritisch Rechnung zu tragen, werden die diversen Fundorte unterschiedslos mit dem von der Geschichtswissenschaft geprägten Begriff der Quelle bezeichnet. Unproblematisch wäre das in den Fällen, bei denen auf das renommierte Lexikon für Theologie und Kirche verwiesen wird - wenn nicht die dort bei Bedarf explizit oder implizit vermittelte Kennzeichnung als legendarisch weggelassen würde. In gleicher Weise wie auf dieses Lexikon wird zudem auch auf das Werk „Erscheinungen. Phänomene, die die Welt erregen“ des Autors Erich von Däniken rekurriert. Hier zeigt sich, in welchem Maße die Autoren Berührungsängste mit der Pseudowissenschaft vermissen lassen. In ihrem einleitenden Kapitel, das laut Überschrift Hilfen zum Verständnis von Marienerscheinungen bereitstellt, machen sie wohlwollende Ausführungen zum Thema „Die Bedeutung der Parapsychologie im Umgang mit den Erscheinungen“.[16] 

 

Über den Autor Robert Ernst, aus dessen Lexikon der Marienerscheinungen sie über 600 Erscheinungen übernommen haben, schreiben Hierzenberger und Nedomansky, dass er sich „seit Jahrzehnten mit diesen Themen befasst und einer der besten Kenner der Materie ist“.[17] Schauen wir also Jahrzehnte zurück in seine Publikation „Maria redet zu uns. Marienerscheinungen seit 1830“ aus dem Jahr 1950. Darin bekennt sich der Autor zu seiner Überzeugung, dass Maria, um auf Erden zu erscheinen, den Himmel nicht verlassen müsse: „Wir wissen nämlich, daß die Bilokation selbst für noch im Diesseits lebende Menschen möglich ist und bereits öfters stattgefunden hat. (…) Wenn nun schon sterblichen Menschen die Bilokation möglich ist, wie viel mehr dann verklärten Menschen wie Jesus und Maria.“[18] 

 

Mitwirkung an der Offenbarung

 

Marianische Aktivisten stellen sich als kirchlich eng gebunden und allein durch ihre Treue zur kirchlichen Lehre motiviert dar. Tatsächlich gilt das in Fällen, in denen die Kirche eine Erscheinung anerkannt hat. Aber selbst dann besteht die Neigung, den kirchlichen Untersuchungskommissionen eine gegenüber dem behaupteten Eingriff des Himmels in die irdischen Dinge ungerechtfertigte Skepsis zu unterstellen. Hinter einer solch negativen Grundhaltung gegenüber den kirchlichen Prüfungskommissionen kann sich mehr als Enttäuschung über negative Ergebnisse verbergen, und zwar das Bemühen, das vom kirchlichen Lehramt definierte Offenbarungsverständnis zu dehnen oder gar weiter zu entwickeln. So stellte Robert Ernst 1949 die Offenbarung - insoweit zutreffend - als abgeschlossen und die Kirche als ihre Hüterin dar, behauptete zugleich aber auch: „Aber Christus selbst, (…), will (…) diese Offenbarung entfalten, sei es durch das geheimnisvolle Wirken Seines Hl. Geistes, sei es durch persönliche Erscheinungen,  (…), sei es durch Erscheinungen Seiner heiligen Mutter, oder von Engeln und Heiligen.“22 Die Ablehnung selbst einer dem Autor zufolge echten Marienerscheinung soll „infolge ungläubiger oder selbst ‚rationalistisch-christlicher‘ Geisteseinstellung möglich“ sein.[19] Damit sagte der Autor implizit auch, dass die Kirche mit der Ablehnung einer Marienerscheinung dem Willen Christi zur Entfaltung seiner Botschaft entgegenstehen könne. Auf dieser Linie bekannte er sich dazu, dass er für „eine Entwicklung des Christentums (…) durch objektive (Privat-)Offenbarung von ‚Oben’ her“ kämpfe.[20] In der Einleitung zu seiner 1950 publizierten Auswahl von 16 Marienerscheinungen seit 1830, die vom Oktober 1949 datiert, stellte er klar, dass er einen Beitrag zur Schaffung eines neuen Mariendogmas leisten will: „Diesen erhabenen Tag, an dem Mariens universale Gnadenvermittlung als Dogma proklamiert wird, scheint Maria in ihren zahlreichen Erscheinungen vorzubereiten.“[21] Auch Jahrzehnte später sah Robert Ernst in Marienerscheinungen ein Korrektiv des kirchlichen Lehramts: „Jedenfalls darf eine Entscheidung nicht abgelehnt werden, nur weil die Aussagen Mariens nicht in den Rahmen gewisser Theologen oder Würdenträger passen. Wer könnte Maria das Recht absprechen, Missstände in der Kirche zu rügen und falsche Lehren zurecht zu biegen?“[22] Auch Hierzenberger und Nedomansky lassen keinen Zweifel, dass sie mit ihrer Sammlung ein präzises Ziel verfolgen. Sie zeigen es am Beispiel der Erscheinungserzählung der mexikanischen Jungfrau von Guadalupe: „Eine ganz neue Perspektive erreicht die Offenbarung Marias in Guadalupe 1531, als sie dem Azteken Cuauhtlatohuac liebevoll begegnete (…) und ihn lehrte, dass der Glaube an die Schlangengöttin Tonántzin (…) vorweggenommene, aber mißverstandene Erkenntnisse ihrer Miterlöserschaft als ‚Schlangenzertreterin‘“ seien.[23] 

 

 

II. Die Marienerscheinung von Guadalupe / Mexiko 1531

 

Das Heiligtum der Jungfrau von Guadalupe am Hügel Tepeyac wenige Kilometer nördlich von Tenochtitlán, dem heutigen Mexico City, der ehemaligen Hauptstadt des von Hernan Cortés und seinen indigenen Verbündeten in den Jahren 1519 - 1521 eroberten Reiches der Azteken[24] , ist die weitaus größte Marienwallfahrtsstätte der Welt. Sie wird jährlich von 10 - 20 Millionen Menschen besucht und stellt damit Wallfahrtsorte in Europa wie Lourdes und Fatima weit in den Schatten. Allein der Petersdom in Rom kann mehr Besucher verzeichnen als die Basilika der Jungfrau von Guadalupe. Sie verbindet die mittelalterliche Marienverehrung in Europa mit der neuzeitlichen in Amerika. Ihr Feiertag wird auch in den USA begangen, deren Territorium vom 16. bis zum 19. Jahrhundert zu weiten Teilen zum spanischen Kolonialreich gehörte.

 

Die Erzählungen von der Erscheinung der Jungfrau von Guadalupe

 

117 Jahre nach dem behaupteten Erscheinungsereignis, im Jahre 1648, veröffentlichte Miguel Sanchez, Priester der Erzdiözese Mexiko, ein Buch namens „Das Bild der Jungfrau Maria, Gottesmutter von Guadalupe“. Es beinhaltet die erste schriftlich veröffentlichte Erzählung von der 1531 dem Indio Cuauhtlatohuac mit dem Taufnamen Juan Diego am Tepeyac zuteil gewordenen Marienerscheinung. Deren Botschaft lag in dem Auftrag, den ersten Bischof von Mexiko, Juan de Zumárraga, zur Errichtung eines Gotteshauses am Hügel Tepeyac zu veranlassen und es Guadalupe zu nennen: „Es ist mein innigster  Wunsch, dass mir hier eine teocalli (Gotteshaus) gebaut werde, wo ich meine ganze Liebe, mein Mitleid und Erbarmen, meine Hilfe und meinen Schutz den Menschen erweisen und schenken will.“[25] Der Bischof soll zunächst ein Wunder verlangt haben. Dieses wurde dem Indio durch prächtige kastilische Rosen gewährt, die sich in seinem Mantel vor den Augen des Bischofs in das authentische Abbild Mariens verwandelten. Daraufhin errichtete der Bischof die Kapelle als Ort der Verehrung dieses wundersamen Bildnisses. Nach Konsultation des Stadtrates und des Domkapitels soll er es am 26. Dezember 1531 in feierlicher Prozession in das neue Heiligtum überführt haben.[26] Im Jahre 1660 veröffentlichte der Jesuit Mateo de la Cruz anonym eine deutlich kürzere Neufassung des mitunter ausufernden Textes. Dabei fügte er die bei Sanchez fehlenden genauen Daten der Erscheinungen hinzu: Sie sollen in den Tagen vom 9. bis 12. Dezember geschehen sein. Des weiteren betonte de la Cruz die Überlegenheit des mexikanischen Marienbildes gegenüber dem spanischen: Während der Heilige Lukas das im spanischen Kloster Guadalupe verehrte Marienbild geschaffen habe, sei das mexikanische von Gott, von Maria selbst oder doch wenigstens von den Engeln gemacht worden.[27]   

 

Im Januar 1649 veröffentlichte der Kaplan der Kapelle von Guadalupe, Luis Laso de la Vega, das Buch „Huei tlamahuicoltica“, zu Deutsch: „Durch ein großes Wunder“. Im Unterschied zu Sanchez schrieb er es auf Nahuatl, der Sprache der Mexica. Dieses Werk stellt eine Kompilation von sechs Texten dar. Der auf das Vorwort folgende Text heißt Nican mopohua, zu Deutsch: „Hier wird erzählt“. Dabei handelt es sich ebenfalls um die Erscheinung von 1531. Sie weicht nur in weniger wichtigen Details von der spanischen Erstfassung ab. Es folgt eine Beschreibung des Marienbildes. Der vierte Teil  besteht aus dem Text namens Nican motecpana. Er enthält Erzählungen über die am Heiligtum geschehenen Wunder. Der fünfte Teil beschreibt das Leben von Juan Diego, der letzte besteht aus Gebeten. Die zeitliche Nähe der zweiten Veröffentlichung zur ersten ist kein Zufall: Laso de la Vega hatte für das Werk von Sanchez eine Empfehlung geschrieben, die in dem Buch selbst abgedruckt wurde. Darin verglich er sich mit dem schlafenden Adam: Erst durch das Werk von Sanchez habe er erfahren, dass mit der Erscheinung von 1531 Maria, die neue Eva, in Mexiko wiedergeboren wurde. Während das Werk von Sanchez lange Zeit die weit bedeutendere Wirkungsgeschichte hatte, gilt heute der Nican mopohua als Referenztext für die Erscheinung Mariens in Mexiko. 

 

Sowohl Miguel Sanchez als auch Luis Laso de la Vega haben in ihren Einführungen verklausuliert, aber klar genug eingeräumt, dass sie über keine schriftlichen Quellen verfügten und deshalb aus „altem Wissen“ geschöpft hätten. In der Tat erbringt eine umfassende Untersuchung aller Annalen und Chroniken sowie allen anderen Schrifttums vor 1648 keine einzige plausible Information zu dem für 1531 behaupteten Wunder. Das Schweigen der Quellen ist, anders als es in der Geschichtswissenschaft sonst im Allgemeinen zu bewerten ist, in diesem Fall ein wichtiges Indiz, dass es sich um Neuschöpfungen handelt. Weder Bischof Zumárraga noch Erzbischof Montúfar hätten es versäumt, über ein so wunderbares Ereignis zu berichten. Das gleiche gilt für einen der ersten Missionare und Historiker der Neuen Welt, Toribio de Benavente, genannt Motolinía, dessen Historia de los Indios den Zeitraum bis 1541 abdeckt, sowie für die vielen anderen spanischen und indigenen Autoren. Auch über ihre angeblich mündlichen Quellen aber haben Sanchez und de la Vega nichts Näheres mitgeteilt. Wegen der wachsenden Popularität erst des Werkes von Sanchez und später auch des Werkes von de la Vega durchzieht die gesamte nachfolgende mexikanische Kirchengeschichte das Bemühen, Beweise dafür zu finden, dass es sich dabei um glaubwürdige Erscheinungsberichte handele. Das Manko schriftlicher Belege bleibt bis heute ungelöst. 

 

Die marianischen Traditionen von Remedios und von Guadalupe

 

Die spanischen Eroberer haben mindestens zwei der vielen Marientraditionen Europas in die Neue Welt gebracht. Eine davon ist die Verehrung der Jungfrau von Remedios. Ihre während der Eroberung der Neuen Welt fortgeschriebene Überlieferung weist folgende Elemente auf: Ein an der Eroberung von Tenochtitlán beteiligter spanischer Soldat hatte in seinem Gürtel eine Marienstatue mit sich geführt. Hernan Cortés stellt sie auf der großen Pyramide von Tenochtitlán auf, aber während der Noche triste, der Nacht des 1. Juli 1520, in der die Spanier und ihre zahlreichen indigenen Verbündeten von den Azteken beinahe vernichtet wurden, ging sie verloren. Jahre später wurde sie von einem Indigenen auf dem Hügel Totoltepec wiederaufgefunden. Sie widersetzte sich dem Wunsch des Finders, sie in seinem Haus zu behalten. Stattdessen erschien sie nach jeder Nacht am Ort ihrer Wiederauffindung, bis sich der Finder an ein Mitglied des Domkapitels wandte und dieser ihr eine Kapelle errichten ließ. Einem Seitenstrang der Überlieferung zufolge hatte Maria während der Noche triste durch ihr Erscheinen die vollständige Vernichtung der Spanier verhindert. Als Datum der Wiederauffindung und damit als ungefähres Datum der Errichtung der Kapelle nennen die verschiedenen Quellen die Jahre 1540, 1544 und 1555. Als Finder der Marienstatue nennt die Legende einen Indigenen mit dem Taufnahmen Juan de Tovar. Sein Vorname gab später Anlass zu Verwechselungen. 1698 gab ihm Agustin Vetancurt den Namen Juan Diego. Auch der Dichter Angel Betancurt verwechselte wenig später den Finder der Statue von Remedios mit dem Seher von Guadalupe. Man sieht daran, wie sich die verschiedenen legendarischen Überlieferungen mischten.

 

Für das Jahr 1574 ist ein Kultort für die Jungfrau von Remedios in den Quellen belegt. Er befindet sich am Totoltepec. In diesem Jahr wurde die Kapelle vom Rat der Stadt Mexiko erneuert und in seinen Schutz und in seine Kontrolle übernommen.[28] An diesem Ort hat Miguel Sanchez um das Jahr 1662 als Kaplan gewirkt, bevor er seinen Lebensabend am Heiligtum von Guadalupe verbrachte.

 

Die Überlieferungen zur Jungfrau von Guadalupe reichen bis in das früheste Mittelalter zurück. Gregor der Große, Kirchenlehrer und Papst während der Jahre 590 bis 604, schenkte dem Heiligen Leander von Sevilla ein Marienbild, das im 8. Jahrhundert vor den anrückenden Mauren in der Estremadura versteckt wurde, um während der Reconquista im späten 13. Jahrhundert von einem Hirten wiedergefunden zu werden. Dieser war einer entlaufenen Kuh nachgeeilt und fand das Bildnis infolge einer Erscheinung Mariens wieder, die ihm das Versteck offenbarte. Seitdem wird es in dem zu diesem Zweck gegründeten Kloster von Guadalupe verehrt. Die nachhaltige Verehrung verdankt sich der Hilfe, die der Jungfrau von Guadalupe bei der Reconquista zugeschrieben wurde. Das legendarische Motiv eines verlorenen und von Hirten mit Hilfe Mariens wiedergefunden heiligen Objekts war im spanischen Mittelalter sehr populär und in den Pyrenäen bis weit ins heutige Frankreich verbreitet. Auch die Seherin von Lourdes kannte es aus einer nahegelegenen Wallfahrtskirche. 

 

Hernan Cortés, Francisco Pizarro und seine Halbbrüder sowie viele andere Conquistadoren stammten aus der Estremadura. Sie verstanden die Eroberung der Neuen Welt als Fortsetzung der Reconquista und legitimierten sie mit dem Auftrag zur Mission. Columbus, der seine Verhandlungen mit der spanischen Krone über die Finanzierung seiner ersten Indienreise 1486 im Kloster der Jungfrau von Guadalupe geführt hatte, brachte ihren Kult in die Neue Welt. Einer Karibikinsel gab er ihren Namen. Hernán Cortés führte ihr Abbild auf seiner Kriegsfahne mit. Nach der Eroberung Mexikos soll er ihr ein Heiligtum mit einem Bildnis von ihr auf dem Hügel Tepeyac errichtet haben.[29] Wir stoßen hier auf Berührungspunkte zwischen Geschichtsschreibung und Legenden.

 

Tatsächlich wurde im 16. Jahrhundert am Hügel Tepeyac eine Marienkapelle errichtet, bei der die Jungfrau von Guadalupe verehrt wurde. Wann genau das war und von wem sie errichtet wurde, ist nicht bekannt. Für das Jahr 1555 findet sich aber ein sicherer Beleg für die Kapelle. Der Erzbischof von Mexiko ernannte in diesem Jahr ihren ersten residierenden Priester. Dabei handelte es sich aber nicht um Bischof Juan de Zumárraga, einen Franziskaner, sondern um seinen Nachfolger, Erzbischof Alonso de Montúfar. Montúfar, ein Dominikaner, wurde 1551 zum Erzbischof ernannt und trat sein Amt 1554 an. Nach seinem Tod beschrieb ihn sein Nachlassverwalter als Patron und Gründer der Kapelle. Der Bericht belegt außerdem, dass Montúfar die Kapelle der Geburt Mariens geweiht und den 8. September zu ihrem Feiertag bestimmt hatte. Dem steht nicht entgegen, dass die Menschen den Ort Guadalupe nannten,34 hatte doch Erzbischof Montúfar den neuen Kultort gefördert, indem er ihn mit den spanischen Traditionen der Marienverehrung, insbesondere derjenigen von Guadalupe, zu verbinden suchte. Zwischen der Weihe an die Geburt Mariens und der faktischen Verehrung der Jungfrau von Guadalupe bestand aber ein Spannungsverhältnis, das die Erzdiözese Mexiko erst im 18. Jahrhundert auflösen konnte, indem sie den Feiertag vom 8. September auf den 12. Dezember verlegte. Auf diesen Vorgang wird noch zurückzukommen sein.

 

Maria statt Tonantzin ?

 

Den Grund, kurz nach der spanischen Eroberung einen marianischen Kultort am Tepeyac einzurichten, beschreibt Kury Tlapoyawa wie folgt: „By placing a schrine in honor of La Virgen de Guadalupe at Tepeyak, the Spaniards hoped to subvert an indigenous sacred space and transform it into one of Catholic obedience.“[30] Die Auffassung, dass die Spanier den Kult von Guadalupe gezielt zur Christianisierung einer heidnischen Kultstätte eingesetzt haben, ist auch in der deutschen Religionswissenschaft bekannt. Sie geht auf den Franziskaner Bernardino de Sahagún, genauer auf den 1576 von ihm veröffentlichten Anhang zu seinem Werk Historia general de las cosas de Nueva Espana zurück, in dem er sich gegen drei von ihm als solche identifizierte Götzenkulte in Mexiko wandte, darunter den von Guadalupe. Ihm zufolge haben die Indios mit der Jungfrau von Guadalupe tatsächlich nicht Maria, die Mutter Gottes, sondern eine aztekische Göttin namens Tonantzin verehrt, für die in vorspanischer Zeit am Hügel Tepeyac ein Tempel errichtet worden war. Ob dies so war oder nicht, lässt sich nicht mit Sicherheit klären. Manche Experten verweisen darauf, dass sich für Sahagúns Behauptung in indianischen Quellen kein Beleg findet.[31]  

 

Franziskanische Kritik an Idolatrie – ein Marienbildnis von Menschenhand

 

Während einer Predigt im Franziskanerkonvent am 8. September 1556 wandte sich Francisco Bustamante, Provinzial der Franziskaner in Mexiko, in scharfer Form gegen den Kult von Guadalupe. Er widersprach damit Erzbischof Montúfar, der am 6. September von Wundern bei der Kapelle gesprochen und Klage darüber geführt hatte, dass die Indios für die Jungfrau keine Verehrung zeigen würden. Im Rahmen einer daraufhin vom Erzbischof gegen Bustamante eingeleiteten kirchlichen Untersuchung wurden acht Zeugenaussagen eingeholt, anhand derer sich die wesentlichen Aussagen des Franziskaners rekonstruieren lassen. Demnach wandte sich Bustamante gegen den Versuch des Erzbischofs, den neuen Kult am Tepeyac mit den bestehenden marianischen  Traditionen in Europa und der Neuen Welt - darunter neben Guadalupe auch Remedios - zu verbinden. Des weiteren verlangte Bustamante vom Bischof die Überprüfung der behaupteten Wunder und von den weltlichen Behörden die harte Bestrafung derer, die falsche Wunderberichte verbreiteten. Die Untersuchungsergebnisse lassen klar erkennen, dass Bustamante dem Erzbischof die Förderung von Idolatrie unter den Indios vorwarf. Ein solches Vorgehen würde Bustamante zufolge die Missionstätigkeit der Franziskaner untergraben. In diesem Zusammenhang qualifizierte Bustamante – und das ist bis heute von Bedeutung – das Bild der Jungfrau, das den Indios wie ein Gott präsentiert würde, als ein kurz zuvor von einem konvertierten Indio angefertigtes Gemälde. Diese Aussage wurde von vier Zeugen bestätigt, von denen einer auch den Namen des Malers – Marcos – mitteilte.  Aus den Quellen geht weiterhin hervor, dass dieser gut belegten Aussage nicht widersprochen wurde. Erst nachdem von Sanchez und de la Vega über 90 Jahre später die Marienerscheinung und der himmlische Ursprung des Bildes behauptet worden waren, wurde sie bestritten. Die Untersuchung gegen Bustamante aber versandete. Erzbischof Montúfar hat ihre Ergebnisse nicht nach Spanien geschickt. Dass keine disziplinarischen Maßnahmen folgten, haben spätere Anhänger des Erscheinungsglaubens mit dem Tod Bustamantes zu erklären versucht. Diese Erklärung ist nicht plausibel, denn Bustamante starb erst sechs Jahre nach dem Skandal.

 

Die Suche nach der kanonisch geforderten mündlichen Tradition

 

Während einer Vakanz des Erzbistums Mexiko im Jahre 1666 richtete das Domkapitel eine Petition an den Papst, den 12. Dezember als Gedenktag an die Erscheinung des heiligen Abbildes der Gottesmutter zu einem in ganz Neu - Spanien zu beachtenden Feiertag zu erheben.[32] Dem Domkapitel gehörte außer Miguel Sanchez auch Francisco de Siles an, der wie Laso de la Vega an der Erscheinungserzählung von Sanchez mit einem Empfehlungsschreiben beteiligt gewesen war. Rom entsprach der Petition nicht, sondern erklärte eine kanonische Untersuchung für notwendig und kündigte die Zusendung der nötigen Unterlagen an. Das Domkapitel aber wartete deren Eintreffen nicht ab. Man berief selbständig eine Untersuchungskommission und erstellte den Fragenkatalog, auf dessen Grundlage Zeugen zu befragen waren. Es ging dabei nicht darum, einen Beweis für die Erscheinungen von 1531 an sich zu erbringen. In Fällen, in denen schriftliche Quellen für die Behauptung einer Erscheinung fehlen, reicht nach kirchlichem Recht der Nachweis für die Existenz einer durchgängigen mündlichen Tradition, die bis zu dem behaupteten wunderbaren Ereignis zurückreicht - einer Tradition, auf die sich Sanchez und de la Vega 1648/49 berufen hatten, ohne Näheres darüber mitteilen zu können. Von Januar bis April 1666 wurden 20 Zeugen befragt, darunter zehn spanische Kleriker und Ordensleute, sieben Indios, zwei Laien und ein Mestize. Zu den befragten Priestern zählte auch Miguel Sanchez, der damit nun Gelegenheit bekam, seinen 1648 fehlenden Nachweis einer mündlichen Tradition nachzuholen. Alle befragten Indios stammten aus dem Juan Diego zugeschriebenen Heimatort und benötigten für ihre Aussagen Übersetzer, für deren Auswahl wiederum das Domkapitel Sorge getragen hatte. 

 

Festzuhalten sind weiterhin die erstaunlichen Angaben zum Alter der Zeugen sowie der von diesen benannten Referenzpersonen. Angeblich waren vier der sieben Indios über hundert Jahre alt. Einer von ihnen berief sich auf eine Tante, die 110 Lebensjahre erreicht haben sollte. Diese Altersangaben waren im Hinblick auf Ziel und Zweck der Untersuchung durchaus verständlich, denn der gesuchte Traditionsnachweis musste immerhin 135 Jahre überbrücken. Es sei erwähnt, dass ein heutiger Apologet das von ihm mit 78 - 115 Jahren bezifferte Alter der Befragten „bei den allgemein langlebigen Indios“ keineswegs für ungewöhnlich hält.[33] Die Ergebnisse der Untersuchung wurden nach Rom geschickt, führten aber nicht zu dem gewünschten Ergebnis. Rom schickte die  Unterlagen auf nicht näher bekannte Weise nach Mexiko zurück, ohne in der Sache zu antworteten. 

 

Die Wunderkraft des Marienbildnisses von Guadalupe

 

1556 hatte der Franziskanerprovinzial Bustamante, wie oben dargestellt, den Vorwurf erhoben, Erzbischof Montúfar fördere mithilfe eines Marienbildes, das kürzlich von einem Indio gemalt worden war, die ohnehin bei den Indios vorhandene Tendenz zur Idolatrie. Falls es zuvor am Tepeyac ein anderes Marienbild gegeben hat, etwa eines, das dem Eroberer Cortés zugeschrieben wurde, dann wäre es um 1555/56 gegen das neue Gemälde ausgetauscht worden. Dass dieses Bild mit dem heute als heilig verehrten identisch ist, ist wahrscheinlich, aber nicht bewiesen. Es hat im Heiligtum auch lange eine silberne Statue gegeben, die eingeschmolzen und zu Kerzenständern verarbeitet wurde, als neben dem inzwischen als himmlisch verehrten Abbild Mariens kein Bedarf mehr für sie bestand.   

 

Während der diözesanen Untersuchung von 1666, mit der eine mündliche Tradition etabliert werden sollte, wollte man von den Indios auch Antworten auf die Frage der übernatürlichen Herkunft des heiligen Bildes und auf die Frage, wie dasselbe so lange in der feuchten und salzhaltigen Luft von Tepeyac überdauern konnte. Nachdem die zwischenzeitlich in Vergessenheit geratenen Kommissionsunterlagen von 1666 im Dezember 1720 wiedergefunden worden waren, berief der Erzbischof zwei Jahre später zwei Expertengruppen aus Medizinern und Kunstexperten mit dem Auftrag, das heilige Abbild von Guadalupe zu untersuchen. Ein Ergebnis der daraufhin 1723 durchgeführten Untersuchung ist nicht bekannt.[34] 

 

So blieb die Verehrung der Jungfrau von Remedios lange Zeit weit bedeutender als die Verehrung der Jungfrau von Guadalupe. Wenn Maria bei Gefahren um Rettung angefleht wurde, hat man dazu regelmäßig die Statue der Jungfrau von Remedios in die Stadt gebracht. Die einzige Ausnahme war die große Flut der Jahre 1629-1634. Diese Katastrophe wurde von einem Pestausbruch begleitet und hätte fast zur Aufgabe der Stadt geführt. Gleich zu Beginn der Flut wurde zum ersten und einzigen Mal statt der Statue von Remedios das Bildnis der Jungfrau von Guadalupe in die Kathedrale überführt. Da die Flut vier Jahre anhielt und man deshalb auch alle in Frage kommenden anderen Heiligen eingeschaltet hatte, waren sich die Zeitgenossen nicht darüber einig, wem die nach fast fünf Jahren schließlich eintretende Rettung zu verdanken war. Die Flut lieferte aber den ersten Hinweis darauf, dass dem Bildnis der Jungfrau von Guadalupe Wunderkräfte zugeschrieben wurden. Zuvor hatten sich Wunderberichte mit Bezug zum Tepeyac nicht auf das dortige Bildnis, sondern auf eine Heilquelle in der Nähe der Kapelle von Guadalupe bezogen. Dies bezeugt ein ausführlicher Bericht eines englischen Freibeuters, der 1568 – 1571 in Neu-Spanien in der Nähe von Guadalupe festgesetzt gewesen war, sich aber relativ frei in der Gegend bewegen durfte.[35]

  

In den Jahren 1736/37 wütete in Mexiko eine verheerende Seuche. Nachdem die Jungfrau von Loreto und die Jungfrau von Remedios, letztere wiederum nach einem Transfer in die Kathedrale, vergeblich um Hilfe angerufen worden waren, schlug der Rat der Stadt in Erinnerung an die große Flut vor, es in der Kathedrale erneut auch mit dem Bild der Jungfrau von Guadalupe zu versuchen. Der Erzbischof antwortete, dass umgekehrt die Vertreter der Stadt zum Heiligtum von Guadalupe gehen und dort die übliche Novene beten sollten. Auch diese Maßnahme blieb erfolglos. Nun kam die Option zum Zuge, für die Rettung der Stadt einen Schwur zu leisten. Dieser hatte zum Inhalt, dass man die Stadt dem Patronat der Jungfrau von Guadalupe unterstellen würde. Am 27. April 1737 schworen Vertreter des Stadtrats und des Domkapitels für den Fall der Rettung, die Stadt der Jungfrau von Guadalupe zu unterstellen, den Tag der Erscheinung ihres Abbildes, den 12. Dezember, zu ihrem Feiertag zu bestimmen und sich gegenüber Rom dafür einzusetzen, dass der Papst das Patronat und den dazugehörigen Feiertag bestätige. Des weiteren versprachen sie, die Ausweitung des Patronats auf ganz Neu-Spanien anzustreben. Am 26. Mai 1737 erklärte der Erzbischof die Jungfrau von Guadalupe zur Schutzpatronin der Stadt und den 12. Dezember zu ihrem Feiertag. Das sehr bald darauf eintretende Ende der Seuche bestätigte den Glauben an die Wunderkraft des Abbilds der Jungfrau. Der Erzbischof begann sogleich, die Zustimmung aller Städte und Domkapitel in Neu-Spanien zur Ausweitung des Patronats über Neu - Spanien und Guatemala einzuholen. Am 11. Dezember 1746 konnte er es schließlich proklamieren. Die erforderliche Genehmigung durch den Papst erfolgte 1754 durch Benedikt XIV., aber dessen Breve Non est equidem sorgte doch auch für eine gewisse Enttäuschung. Ein päpstliches Breve steht im Rang unter einer päpstlichen Bulle und wird nicht vom Papst selbst unterzeichnet. Vor allem aber machte sein Wortlaut deutlich, dass die Genehmigung von Patronat, Feiertag und Kult nicht die Anerkennung der Erscheinung selbst und damit auch nicht die Anerkennung der Übernatürlichkeit des dabei entstandenen Marienbildnisses umfasste.[36] 

 

Antonio Valeriano - der imaginierte Autor der Erscheinungserzählung

 

Um die Mitte des 18. Jahrhunderts hatte ein aus dem Herzogtum Mailand stammender Adliger namens Lorenzo Boturini Benaduci auf der Suche nach Belegen für die ihn faszinierende Erscheinungserzählung von Guadalupe jahrelang Dokumente über die Geschichte Mexikos zusammengetragen und die Auffassung vertreten, Luis Laso de la Vega sei nicht der wahre Autor des Nican mopohua. Vielmehr habe de la Vega das Manuskript eines indigenen Autors zufällig aufgefunden und 1649 als seinen eigenen Text ausgegeben. Für den wahren Autor hielt Boturini den indigenen gelehrten Latinisten Antonio Valeriano, der zwischen 1573 bis in die 1590 er Jahre Gouverneur eines Stadtviertels von Mexico City war. Als Boturini die Theorie von Valerianos Autorenschaft zu Papier brachte, verfügte er nach einem mehr als abenteuerlichem Leben, das ihm mehrfach Jahre in Haft beschert hatte, über keine der von ihm Jahre zuvor gesammelten Dokumente mehr. Nicht nur, weil er deshalb aus dem Gedächtnis schreiben musste, sondern auch wegen der nachweisbaren Einseitigkeit seines Unterfangens waren ihm zahlreiche Irrtümer unterlaufen, darunter u.a. Verwechselungen zwischen den Traditionen von Remedios und von Guadalupe.[37] Dennoch begründete Boturini die von späteren Erscheinungsanhängern gern geglaubte, aber nie plausibel gemachte, geschweige denn bewiesene, Auffassung, dass Antonio Valeriano der wahre Autor des Nican mopohua sei.

 

Die Bedeutung des criollismo oder die politische Instrumentalisierung Mariens

 

Die Geschichte der Verehrung der Jungfrau von Guadalupe in Mexiko ist nicht verständlich ohne Klärung der Begriffe Kreole und Kreolentum, wobei für Kreolentum nachfolgend das spanische Wort criollismo benutzt wird. Ein Kreole ist ein Spanier, der nicht im Mutterland, sondern im spanischen Kolonialreich geboren wurde. Zwischen Kreolen und Mutterländern, den peninsulares, bestand ein Spannungsverhältnis, weil die spanische Krone viel zu lange daran festgehalten hatte, Führungspersonen in Behörden und Kirche Neu-Spaniens mit Mutterländern zu besetzen. Dies sollte der Herrschaftssicherung dienen, denn man wähnte sich der Loyalität der Kreolen nicht sicher und schrieb ihnen aus vielerlei Gründen, wie etwa eine unterstellte größere Nähe zu den Indios, eine gesundheitliche, mentale und sogar rassische Minderwertigkeit zu. Genährt aus dieser Erfahrung ihrer Minderwertigkeit, entwickelten die Kreolen eine kompensatorische Geisteshaltung, für die der Begriff criollismo steht. Sie begannen, ihre Wurzeln in der Neuen Welt zu suchen und eine von den Spaniern getrennte Identität zu entwickeln. Während spanische Chronisten und Historiker ihr Land angesichts der weltweiten Eroberungen „als legitimen Nachfolger des Römischen Reiches“[38] sahen, integrierten die Kreolen nicht die griechisch-römische Antike, sondern die Geschichte und Kultur der indigenen Völker der Neuen Welt als ihre Antike in ihr Selbstverständnis: „Die Mexica wurden so zu Gründervätern umgedeutet, wobei die reale Lage ihrer indigenen Nachfahren nur wenig interessierte.“[39] Religiöse Anknüpfungspunkte für dieses Sonderbewusstsein glaubten sie bei den mythisch überhöhten ersten zwölf franziskanischen Missionaren zu finden, die bereits am 13. Mai 1524 nach Mexiko entsandt worden waren. Diese stammten wie die wichtigsten Conquistadoren und eben auch wie die Jungfrau von Guadalupe aus der Estremadura. Die dortigen Franziskaner waren in besonderer Weise den von Joachim von Fiore entwickelten millenaristischen Vorstellungen verbunden und träumten davon, in der Neuen Welt ein himmlisches Jerusalem aufzubauen.[40] Dies förderte das Selbstverständnis vieler Kreolen, sich als neues auserwähltes Volk zu verstehen. Ein wichtiger Teil dieses Prozesses sind die Erscheinungserzählungen von 1648/49. Um die Mitte des 17. Jahrhunderts wurde die Kirche Mexikos nicht mehr allein von peninsulares, sondern auch und bald überwiegend von creolos geführt. Miguel Sanchez und Luis Laso de la Vega zählten zu ihrer gebildeten Führungsschicht. Ihre märchenhaft schöne Vision von der Erscheinung der Jungfrau von Guadalupe in Mexiko fand vor allem deshalb Zustimmung, weil sie den Kreolen die Bestätigung ihrer Auserwähltheit lieferte. Im Werk von Sanchez bildete sie den Rahmen für die Propagierung seiner kreolischen Interpretationen: „Writing as a hagiographer, not a historian, he sought to link the Virgin of Guadalupe with the woman of the Apocalypse (Revelation 12). (…) He compared Zumárraga to Saint John the Evangelist and Mexico to Patmos (the island where the evangelist was exiled), and he interpreted Revelation 12 in terms of Mexico and the Spanish Empire. (…). His emphasis (…) was that Revelation 12 prefigured Mexico, Guadalupe and the destiny of the sons of the land.[41] 

 

Während der verheerenden Epidemie begann im Jahre 1737 der unaufhaltsame Aufstieg der Jungfrau von Guadalupe. Sie überholte nicht nur die Jungfrau von Remedios an Bedeutung. Indem der criollismo ihr eine zweite Geburt in ihrer neuen Heimat Mexiko zuwies, wurde sie in einen für sie vorteilhaften Gegensatz zur spanischen Jungfrau von Remedios gebracht. An ihrem Heiligtum am Tepeyac erläuterte der Prediger den anwesenden Betern, warum sie von der Stadt nach Guadalupe pilgern mussten, während die Jungfrau von Remedios zuvor - und zwar vergeblich - in die Kathedrale gebracht worden war: Während letztere aus Europa gekommen sei und in Amerika keinen besonders bezeichneten Kultort hätte, sei die Jungfrau von Guadalupe in Neu - Spanien selbst geboren worden. Sie sei die Königin von Neu-Spanien, und deshalb hätte ihr Volk wie gute Untertanen zu ihr zu kommen.[42] 

 

Das göttliche Abbild der Erscheinung war der Beweis, dass die Gottesmutter in der Neuen Welt, dem von den ersten Franziskanern ersehnten Neuen Jerusalem, wiedergeboren war. Die Anerkennung des Guadalupe-Kultes einschließlich des neuen Feiertages am 12. Dezember bedeutete den siegreichen Durchbruch dieses kreolischen Messianismus’. Jetzt galt die Jungfrau von Guadalupe als Criolla, die von Remedios hingegen als Conquistadora, für die bald auch die als Schimpfwort gemeinte Bezeichnung gachupina (Spanierin) gebraucht wurde. Die Auswirkungen auf die Entstehung des mexikanischen Nationalismus waren enorm. Im Unabhängigkeitskrieg gegen Spanien 1810 prangte die Jungfrau von Guadalupe auf der Fahne der Aufständischen. Die Kämpfer für die Unabhängigkeit wurden von dem kreolischen Priester Miguel Hidalgo de Castillo angeführt. Sein berühmter Aufruf zu den Waffen endete mit dem Schlachtruf: “Lang lebe unsere Liebe Frau von Guadalupe! (…) Tod den gachupines!”[43] Waren ursprünglich beide Marientraditionen spanisch gewesen, gelang es den Kreolen, eine davon zu einer mexikanischen zu machen und gegen die andere auszuspielen. Fortan spielte die Criolla für die Verschmelzung von Religion und mexikanischem Nationalismus eine herausragende Rolle.

 

 

III. Paris, La Salette und Lourdes

 

Bis zum Ende des Spätmittelalters war der typische Visionär der erwachsene Mann, oft ein Priester.  Im Mittelpunkt stand nicht die Erscheinung, sondern der Visionär, vor allem dann, wenn es sich um einen Heiligen handelte, der durch die Vision ausgezeichnet wurde. Erscheinungen und Visionen dienten auch der Entdeckung oder Wiederentdeckung eines sakralen Objektes, oft eines Marienbildnisses, wobei wiederum nicht die Erscheinung, sondern das Objekt im Mittelpunkt stand und den Gegenstand der Verehrung darstellte. Finder solcher Objekte konnten Personen aus dem einfachen Volk wie Schäfer oder Hirten, mitunter aber auch die von ihnen behüteten Tiere sein. In den Pyrenäen kursierten ganze Zyklen solcher Erzählungen, wobei es oft die Tiere waren, die ihre Hüter zum Versteck führten. So lebten in den Pyrenäen Schäfer und Hirten zwischen dem 13. und dem 17. Jahrhundert in engem Kontakt mit der Jungfrau und Gottesmutter. Die 12 - jährige Schäferin Anglèze de Sagazan, der im frühen 16. Jahrhundert unweit von Lourdes die Jungfrau von Garaison erschien, sollte sich als Vorläuferin von Bernadette Soubirous erweisen.[44] Von nun an war der Seher immer häufiger eine Frau oder ein Kind. 

 

Im 19. Jahrhundert begann dann das Zeitalter, „in dem mehr Kinder als Erwachsene auserwählt waren und weibliche Visionäre zahlreicher als männliche waren“.[45] Zentrales Merkmal der Marienerscheinungen des 19. Jahrhunderts wurde, dass nun die Gottesmutter eindeutig im Mittelpunkt stand. Maria übermittelte nun auch umfangreichere Botschaften, die  nicht immer, aber zumeist auch den Wunsch nach Errichtung eines spezifischen Kultortes beinhalteten, der sehr bald große, im Falle der Approbation kirchlich organisierte Pilgerströme anzog. Bei den Empfängern der Botschaften lassen sich gleiche oder ähnliche individuelle Merkmale feststellen: Oft handelt es sich um Angehörige der ärmeren Bevölkerung oder um die Ärmsten der Armen, oft um Waisen oder Halbwaisen, um junge Frauen oder Kinder, die neben materieller Not auch harte, traumatisierende Brüche im engsten Familienumfeld erlitten haben. Die Seherin von Paris 1830, Cathérine Labouré, war im Alter von neun Jahren als Halbwaise zu einer Tante geschickt worden. Pierre Maximin Giraud, eines der Kinder von La Salette 1846, hatte im Alter von zwei Jahren seine Mutter verloren und wuchs bei einer Tante auf, nachdem er, wie vermutet wird, von seiner Stiefmutter missbraucht worden war.51 Der Vater von Margaretha Kunz, der Seherin von Marpingen 1876, war kurz vor ihrer Geburt bei einem Mühlen-Unfall zu Tode gekommen. Mathilde Sack, die Seherin von Mettenbuch 1877, hatte im Alter von elf Jahren ihre Mutter verloren, ihr Vater saß im Gefängnis, und ihre Stiefmutter konnte sie nicht leiden. Kurz vor ihren Erscheinungen war sie als Dienstmagd zu einer Tante gegangen.[46] Auffällig oft findet sich unter den jungen Seherinnen der Typus der mittellosen Dienstmagd. Nicht immer haben die Seherkinder ihre Erscheinungen selbst als marianisch identifiziert. In der Regel aber widersprachen sie entsprechenden Deutungen nicht, zumal als Alternative im Rahmen ihrer Vernehmungen leicht der Verdacht eines teuflischen Ursprungs aufscheinen konnte. Die Gnade einer Erscheinung Marias konnte die Position am unteren Ende der sozialen Skala enorm verbessern und die zuvor bestehenden Abhängigkeitsverhältnisse aufheben oder sogar zeitweilig in ihr Gegenteil verwandeln. 

 

Der neue Typus von Marienerscheinungen wurde vor allem in drei Erscheinungsereignissen in Frankreich entwickelt, nämlich denen von Paris 1830, La Salette 1846 und Lourdes 1858. Hinzu kamen Marienerscheinungen während und unter dem Eindruck des Deutsch-Französischen Krieges 1870/71. Die Hälfte der 115 Marienerscheinungen zwischen 1803 und 1917 in Europa fand in Frankreich statt,53 dem Land der Revolutionen von 1789, 1830 und 1848 sowie des Pariser Aufstands vom 18. März 1871. Mit der Entwicklung der Verkehrswege, der Telegraphenleitungen und des Zeitungswesens verbreiteten sie sich schnell in ganz Europa. 

Paris 1830 und 1840

 

Kurz vor dem Sturz der Bourbonenmonarchie in der Julirevolution von 1830 in Paris erschien Maria in der Nacht zum 19. Juli der Novizin Cathérine Labouré im Kloster der Vinzentinerinnen in der Rue du Bac und versprach ihr und dem Kloster liebende Zuwendung und Schutz. Maria soll ihr auch die Aufgabe anvertraut haben, für die Gründung einer Vereinigung der Marienkinder zu sorgen, ein Auftrag, den der Beichtvater der Novizin, P. Aladel, am 2. Februar 1840 erfüllte.[47] Am 27. November 1830 erschien Maria erneut und gebot Schwester Cathérine, eine Medaille prägen zu lassen, auf der ihre Erscheinung festgehalten wurde und die an die Gläubigen verteilt werden sollte. Nach einer dritten Erscheinung wurde die Zustimmung des Bischofs, die als Anerkennung der Erscheinung gilt, eingeholt und die Medaille von 1832 an geprägt. Während der Cholera-Epidemie des gleichen Jahres spendete sie den Kranken und Sterbenden Trost und diente den Gesunden als Talisman. Erneut verkörperte die Jungfrau den himmlischen Beistand in Not und Gefahr. Heilungen führten dazu, dass die Medaille sehr bald als wundertätig angesehen wurde. Bis zum Ende des 20. Jahrhunderts wurden schätzungsweise 500 Millionen Exemplare verkauft. Die Medaille zeigt Maria als Immaculata auf der Erdkugel auf der Schlange stehend, mit ausgebreiteten Armen, aus ihren Händen Licht strömend wie Sonnenstrahlen. Die Farben der Erscheinungen waren Blau und Weiß. Dies sind auch die Farben des royalistischen Frankreichs. Daher sahen Zeitgenossen und spätere Apologeten darin auch ein himmlisches Zeichen gegen die revolutionären Erhebungen. Der Sturz König Karls X. war von einem Angriff der Aufständischen auf das Hauptquartier der Jesuiten in Paris, von der Entweihung von Notre - Dame und von einer zweimaligen Plünderung des Pariser Erzbischöflichen Palais begleitet gewesen. Später wurden die Erscheinungen von Lourdes in ähnlicher Weise „als Zeichen der Unterstützung der Sache der Legitimisten gegen das Zweite Kaiserreich gedeutet“.55 Cathérine Labouré, die erst im Alter von achtzehn Jahren erstmals eine Schule besuchen konnte, schrieb ihre Erscheinungen 1834 und dann noch einmal 1876 nieder – nun ergänzt um das, wie es in der apologetischen Literatur heißt, „was sie als ‚Geheimnis‘ hüten sollte“.[48] Die Behauptung von Geheimnissen gehört zu den Standards marianischer Erscheinungsberichte.

 

Ebenfalls im Pariser Kloster der Vinzentinerinnen erschien Maria 1840 sechsmal der baskischen Schwester Justine Bisqueyburu, die sich aufgefordert sah, zu Ehren des unbefleckten Herzens Mariens das „Grüne Skapulier vom Unbefleckten Herzen Mariens“ einzuführen,[49] das 1870 von Papst Pius IX. approbiert wurde.58 Nach den Erscheinungen von Pellevoisin (1876) kam das „Skapulier vom brennenden heiligen Herzen“ hinzu, für das die Seherin Estelle Faguette, eine von einer eigentlich unheilbaren Krankheit wunderbar genesene Dienstmagd, im Jahre 1900 die päpstliche Approbation erwirkte.

 

La Salette 1846

 

Nach der großen Missernte von 1845 zeichnete sich im folgenden Jahr eine weitere Missernte ab. Da erschien Maria am 19. September 1846 in dem abgelegenen französischen Alpendorf La Salette der vierzehnjährigen Mélanie Calvat und dem elfjährigen Pierre Maximin Giraud. Beide arbeiteten, wie später auch Bernadette Soubirous aus Lourdes und die Seherkinder von Fatima, als Hirten. Maria deutete den Kindern die Vernichtung der Kartoffeln als Warnung und Mahnung zur Umkehr. Der Zorn ihres Sohnes, so berichteten die Kinder, sei Folge der Gottlosigkeit der Menschen, die sich in häufigem Fluchen und in der Missachtung des Sonntagsgebots zeige - eine wichtige Botschaft insbesondere für Kinder, die auch am Sonntag hart arbeiten mussten. Maria rief in La Salette nicht nur zu Gebet und Umkehr auf, sondern drohte Unheil an, sollten ihre Mahnungen unbeachtet bleiben. Der Inhalt von darüber hinausgehenden, je einzeln an beide Kinder gerichteten, angeblich geheimen Botschaften wurde ihnen vom Erzbischof von Lyon geradezu abgerungen, um aufgeschrieben und am 18. Juli 1851 Papst Pius IX. übergeben zu werden. Was da zu lesen war, erfuhr angeblich nur der darüber erschütterte Papst.59 Trotz bestehender Zweifel an der Vertrauenswürdigkeit der Seherkinder verkündete der Bischof von Grenoble im November 1851 die Anerkennung ihrer Erscheinungen. Er hatte sich möglicherweise von bischöflichen Mitbrüdern unter Druck setzen lassen, die schon 1847 demonstrativ La Salette besuchten und sich für die Anerkennung der Echtheit aussprachen, obwohl seine Untersuchungen noch liefen.60 Hintergrund war auch die eindeutige Förderung von Marienerscheinungen durch den am 16. Juni 1846 zum Papst gewählten Pius IX. 

 

Die Seherkinder haben sich der Bürde, die ihnen die Anerkennung der Erscheinung auferlegte, in ihrem ruhelosen weiteren Leben nicht in jeder Hinsicht als gewachsen erwiesen. Mélanie Calvat scheiterte als Nonne, Pierre Maximin Giraud gab seinen berühmt gewordenen Namen für eine Likörmarke. Im Rahmen einer Empfehlung zur „Relecture“ der „prophetischen Botschaft“ von La Salette gibt die apologetische Literatur die Schuld daran den französischen Bischöfen, die angeblich „alles getan hatten, um die Seher Mélanie und Maximin des Landes zu verweisen und ihre Worte zu relativieren oder gar lächerlich zu machen“.61 Mélanie Calvat folgte 1879 dem Beispiel

                                                        

auch von Laien getragen werden dürfen, die keiner Bruderschaft angehörten. Es erschien daher geeignet, die Marienfrömmigkeit auch außerhalb der Orden zu stärken.

58 Vgl. Michel Lloret CM: Von der Wunderbaren Medaille zum „Grünen Skapulier“ und zum „Roten Skapulier“: „Talismane“ oder „Zeichen“?, abrufbar unter http://www.medaillenverein.at/index.php?id=56) 59 Vgl. Gottfried Hierzenberger und Otto Nedomansky 1997, S. 203.

  • David Blackbourn 1993, S. 82.
  • Wolfgang Buchmüller: La Salette als prophetisches Interpretament für die Schicksalskrisen des 19. Und 20. Jahrhunderts, in: 100 Jahre Fatima. Referate der ‚Internationalen Theologischen Sommerakademie 2017 des Linzer Priesterkreises, Kisslegg-Immenried 2018, hrsg. von Helmut Prader, S. 155 – S. 182, hier S. 156.

von Cathérine Labouré und veröffentlichte ebenfalls eine neue Fassung ihrer Jahrzehnte zuvor dem Papst zugeleiteten marianischen Botschaft einschließlich ihres geheimen Teils. Von schlimmen Verfehlungen der Priester, von schrecklicher Krise der Kirche, von bevorstehenden Kriegen und von Verfolgungen des Papstes ist da die Rede.[50] Tatsächlich kleidete Mélanie Calvat 1879 die seit 1846 geschehenen historischen Ereignisse in die Form apokalyptischer Prophezeiungen: die Flucht des Papstes am 24. November 1848 vor der Revolution in das Königreich Neapel63 sowie die Einigungskriege Italiens und Deutschlands. 

 

Lourdes 1858

 

Lourdes liegt in den Pyrenäen im Mittelpunkt von vier Tälern, durch die seit dem Mittelalter mehrere bedeutende Pilgerwege verlaufen. Kulturell gehörte die Region im 19. Jahrhundert noch eher zu Spanien als zu Frankreich. Heiligen- und Marienlegenden verbreiteten sich über Jahrhunderte hinweg auch vor dem Hintergrund von Sagen und Märchen. Im Volksglauben  konnten sich Zaubersprüche in lateinisch gesprochene Gebete mischen und bestimmte Bäume und Quellen als magische Mittler zu den christlichen Heiligen dienen. Einen Beleg für den um die Mitte des 19. Jahrhunderts in Lourdes verbreiteten Wunderglauben lieferte dort sogar der Pfarrer. Abbé Peyramale zeigte sich in einem Brief an seinen Bruder fest davon überzeugt, dass er auf dem Rückweg von einem nächtlichen Einsatz durch den verschneiten Wald von einem Rudel Wölfen beschützt worden war, das ihm die Vorsehung geschickt habe.[51] 

 

Lourdes war von karger Land- und Weidewirtschaft geprägt, die den ärmeren Teil der Bevölkerung nur knapp ernährte. Ein Drittel der umgebenden Berge war von Wald bedeckt, der der Kommune gehörte und für die Menschen der Gegend lebenswichtig war, weil er Brennstoff, Bauholz und Nahrung für Kleinvieh lieferte. Seit eine Waldverordnung 1827 den Zugang zum Wald und das Recht auf Holzentnahme limitiert hatte, eskalierten Konflikte um die Waldnutzung in der so genannten „guerre des demoiselles“, eine Bezeichnung, die sowohl als Krieg der Damen als auch als Krieg der Feen verstanden werden kann: Als Frauen verkleidete Männer attackierten jahrelang die staatlichen Forstwächter, aber die Angriffe wurden als Taten der weißen Waldfeen bezeichnet. Es handelte sich bei den „demoiselles“ um die bekannteste zeitgenössische Protestbewegung in den ganzen Pyrenäen. In den 1850er Jahren waren die Konflikte keineswegs beigelegt. Aber sie wurden nun von Frauen und Kindern geprägt, die weiterhin im Wald Holz holten, obwohl dafür Strafen drohten. Der Weg führte an einem aufragenden Felsen vorbei, der Massabieille hieß und an dessen Fuß sich eine Grotte befand. Auch die sandige Fläche zwischen der Grotte und dem Flüsschen Gave de Pau wurde nach dem Felsen Massabieille genannt. Massabieille war so etwas wie ein Grenzbereich zwischen der staatlichen Ordnung von Lourdes und der unwirklichen Welt des Waldes, der zumal für Kinder noch voll der übernatürlichen Dinge war. 

 

1854 und 1855 hatte die Cholera in Lourdes viele Opfer gefordert. Anschließend litten die Menschen unter einer Hungersnot. Bernadette Soubirous war wie ihre vier Geschwister unterernährt und schlecht gekleidet und litt zudem an Asthma, vermutlich auch schon an Tuberkulose, an der sie früh versterben sollte. Mehrere Nachbarstädte von Lourdes waren der Armut der Region dank der reichlich vorhandenen mineralischen Quellen entkommen, indem sie Heilbäder bauten und Touristen anlockten.[52] Bernadette kannte den Kurort Cauterets, wo sie Heilung durch das Wasser gesucht haben soll.[53] 

 

Bernadette entstammte einer Familie, die zunächst nicht zu den gänzlich Armen gehört hatte. Eine Mühle aus der Familie ihrer Mutter, Louise Castérot, die Gegenstand des Ehevertrages der Eltern war, hätte ihr als ältestem von fünf Kindern und gemäß überliefertem Erbrecht der Pyrenäen, das sich gegen die anderslautenden Regelungen des Code Napoléon noch immer behauptete, als Alleinerbin eine halbwegs gesicherte Zukunft bieten können.[54] Aber der Vater hatte nicht nur keine glückliche Hand in wirtschaftlichen Dingen. Vielmehr entwickelten er und seine Frau angesichts von Misserfolgen und Schicksalsschlägen ein ernstes Alkoholproblem, wodurch der Abstieg der Familie in die völlige Mittellosigkeit befördert wurde. Diese Entwicklung bedeutete auch den vollständigen Statusverlust der Erstgeborenen und führte schließlich zur ultimativen Demütigung der Familie: die behördliche Unterbringung im ehemaligen Stadtgefängnis. Zudem stand der Vater, der so genannte unehrliche Berufe wie Lumpensammeln ausüben musste, zeitweise unter Diebstahlverdacht. Bernadette als Älteste wurde schon als Kind zu Verwandten gegeben, um dort ernährt zu werden, wofür sie hart zu arbeiten hatte - ein Verlust familiärer Geborgenheit, der durch seelische Vernachlässigung seitens ihrer Mutter noch verstärkt wurde. Kurz vor ihren Erscheinungserlebnissen hatte Bernadette in einem Nachbarort mehrere Wochen als Schäferin gearbeitet, bis der Vater sie zurückholte, damit sie sich auf ihre Erstkommunion vorbereiten konnte. 

 

Bernadettes Familie galt wie im Grunde die gesamte Bevölkerung als gläubig, allerdings eher nicht als fromm. Bernadette hatte kaum eine Schule besuchen können, und ihre religiöse Kenntnisse beschränkten sich laut ihrem Beichtvater auf das Credo und das Vater Unser. Bildnisse der Immaculata aber waren ihr bekannt. In der Umgebung von Lourdes finden sich rund 40 Marienheiligtümer, acht oder neun davon waren allgemein bekannte Wallfahrtsorte.[55] Bernadette hat die nahe gelegene Marienkirche von Bétharram besucht, wo sie ihren Rosenkranz bekam, der sie ihr Leben lang begleitete. Der Altar zeigt eine Darstellung der Immaculata, wie sie den Schafhirten der umliegenden Berge erschienen war. Wahrscheinlich kannte Bernadette auch die Erzählung von der zwölfjährigen Schäferin Anglèze de Sagazan, der Anfang des 16. Jahrhunderts die Jungfrau erschien und sie beauftragte, am Ort der Erscheinung, bei der Quelle von Garaison, für den Bau einer Kapelle Sorge zu tragen. Anglèze war wie Bernadette die Ärmste der Armen, und nur sie hatte, wie später Bernadette, das Privileg, die Erscheinung sehen zu können.[56] Festgehalten zu werden verdient auch, dass sich in der Marienkirche von Garaison ein Gemälde aus dem späten 17. Jahrhundert befindet, das Pilger in einer Prozession zeigt, bei der fast alle Frauen einen Rosenkranz in der Hand halten.[57] 

 

Am 11. Februar 1858 schickte Louise Castérot ihre zweite Tochter, Toinette, und deren Freundin Jeanne Abadie zum Holzsammeln, weil sie kein Geld hatte, welches zu kaufen.[58] Die von Krankheit geschwächte Bernadette begleitete die beiden Mädchen nach Massabieille. Als sie ihnen in das seichte Wasser des Gave de Pau folgen wollte, um mit ihnen Treibholz zu sammeln, sah sie ein aus der Grotte kommendes sanftes Licht und darin ein lächelndes Wesen in Weiß, das ihr zuwinkte. Bernadette griff nach ihrem Rosenkranz und beobachtete das Wesen, bis es verschwand. Nur sie allein hatte es gesehen, niemand hatte gesprochen. Gegen das Verbot der Mutter ging Bernadette drei Tage später wieder zur Grotte, diesmal in Begleitung von rund einem Dutzend anderer Mädchen und ausgerüstet mit einer Flasche Weihwasser. Das weiße Wesen erschien erneut. Bernadette sagte ihm, es solle nur bleiben, wenn es von Gott komme, und bespritzte es mit Weihwasser, um es zu prüfen. Die Begegnung endete, weil Jeanne Abadie einen Stein nach der für sie unsichtbaren Erscheinung warf, woraufhin alle bis auf Bernadette erschreckt auseinander liefen. Bernadette wurde bleich und blieb wie angewurzelt stehen, bis sich eine aufgeregte Menge um sie sammelte und auch ihre Mutter eintraf, die ihr erneut verbot, noch einmal zur Grotte zu gehen.

 

Nun mischte sich die energische Jeanne-Marie Milhet ein. Sie war Dienstmagd gewesen, hatte aber ihren Arbeitgeber heiraten können und nutzte ihren neuen Status, um Bernadettes Mutter, die ihre Wäsche zu waschen hatte, zum Nachgeben zu bewegen. Beide begleiteten Bernadette am 18. Februar zu ihrer dritten Erscheinung, bewaffnet mit Stift und Papier, damit man den Namen der Erscheinung aufschreiben könnte. Das Wesen in Weiß lachte darüber, sprach aber nun erstmals, und dies in außergewöhnlich freundlichen und höflichen Worten, zu Bernadette und bat sie, die nächsten zwei Wochen täglich wiederzukommen. Bernadette lehnte alles Drängen ihrer Begleiterinnen ab, die Erscheinung nach ihrem Namen zu fragen und nannte sie in ihrem pyrenäischen Okzitanisch lediglich Aquéro. Dieses Wort bedeutet soviel wie „das da“ und bezeichnet ein nicht zu identifizierendes Wesen, das nicht menschlich, aber auch nicht unbedingt göttlich ist. Bei der vierten Erscheinung waren noch weitere Frauen anwesend, darunter Bernarde, eine Schwester von Bernadettes Mutter. Bernarde war nicht nur ihre Patin und einflussreichste Verwandte, sondern sie stellte die Verbindung zu der Gemeinschaft der Marienkinder her, einer 1841 in Lourdes gegründeten Jungfrauenkongregation[59], von denen zwei Damen am folgenden Tag zur fünften Erscheinung kamen. Bei der vierten und fünften Erscheinung geschah nichts, außer dass Bernadette konzentriert und regungslos vor Aquéro kniete. Die Anwesenheit der beiden erwachsenen Marienkinder aber beförderte Spekulationen, es müsse sich um Erscheinungen Mariens handeln, obwohl Bernadette sie weiterhin nur Aquéro nannte.

 

Die sechste Erscheinung rief am 21. Februar den Polizeikommissar Jacomet auf den Plan. Jacomet galt als guter Katholik, seine Reputation aber erlitt Schaden wegen der Rolle, die er nun zu spielen hatte. In der Überzeugung, es mit kindlichem Schabernack zu tun zu haben, unterzog er Bernadette einem veritablen Verhör und versuchte, sie in Widersprüche zu verwickeln. Hier begann das eigentlich Ungewöhnliche: Trotz ihrer körperlichen Schwäche, ihrer mangelnden Bildung und ihrer Position auf der untersten sozialen Stufe gelang es Bernadette, sich in keiner Weise beirren zu lassen und konsequent an ihrer Darstellung festzuhalten. Dazu gehörte die Beschreibung von Aquéro als ein Mädchen, ein pétito damizélo. Das von Jacomet erstellte Protokoll stellt den ersten schriftlichen Bericht über die Erscheinungen von Lourdes dar. Es beschrieb ein Mädchen als „mit einem weißen Kleid bekleidet, das mit einem blauen Tuch zusammengehalten wird, mit einem weißen Schleier über dem Kopf und einer gelben Rose auf beiden Füßen, … und einem Rosenkranz in der Hand“.[60] 

 

Die Drohung Jacomets mit Gefängnis hielt Bernadette nicht davon ab, schon am 22. Februar erneut nach Massabieille zu gehen, eskortiert von bereits fünfzig Frauen. Jacomet blieb nicht viel anderes übrig, als zur Aufrechterhaltung der Ordnung zwei Polizisten mitzuschicken. Dies könnte der Grund sein, dass Aquéro an diesem Tage nicht erschien. Am 23. Februar aber kam Aquéro zum siebten Mal. Dieses Mal waren erstmals Leute mit einem anerkannten sozialen Status dabei, darunter der örtliche Steuereinnehmer Jean-Baptiste Estrade. Estrade war zunächst skeptisch.  Er hatte sich aus Neugier, aber auch auf die Bitte des örtlichen Pfarrers Peyramale hin der Menge angeschlossen. Peyramale wahrte nach außen hin strenge Zurückhaltung, indem er nicht zu den Erscheinungsereignissen ging, wollte andererseits aber doch einen verlässlichen Zeugen vor Ort haben. So war es von erheblicher Bedeutung, dass Estrade sofort von Bernadettes Verhalten während ihrer Vision beeindruckt und von der Echtheit derselben überzeugt war. Auch Estrade schrieb später einen Bericht, allerdings keinen sehr genauen.

 

Während der achten Erscheinung bat Aquéro um Buße und um Gebete für die Umkehr der Sünder. Zudem wies es Bernadette an, den Boden zu küssen. Am folgenden Tag, am 25. Februar, kratzte Bernadette den Boden auf, aß Erde und trank von dem schlammigen Wasser, das hervortrat. Von der geschockten Tante Bernarde kassierte die völlig verdreckte Seherin Ohrfeigen, und Skeptiker hielten die Sache damit für beendet. Andere aber begannen, Flaschen aus der Quelle zu füllen, die Bernadette gefunden hatte. In dieser Lage griff Staatsanwalt Vital Dutour ein und versuchte, ebenfalls ohne Erfolg, Bernadette einzuschüchtern und zum Widerruf ihrer Erscheinungen zu bewegen. Inzwischen war die Menge der Frommen und Schaulustigen auf 800 Personen gewachsen, und die Leute kamen mit Wasserflaschen auch schon aus den Nachbarorten.

 

Die entscheidende Erweiterung der Botschaft von Aquéro trat am 2. März ein. Bernadette wurde aufgefordert, die Priester zu einer Prozession zu rufen und zum Bau einer Kapelle zu bewegen. Nach wie vor war Bernadette die einzige, die Aquéro sehen und hören konnte, aber die jetzige Botschaft ließ trotzdem wenig Zweifel an ihrem wahren Charakter aufkommen, denn sie war der gesamten Bevölkerung bestens vertraut: Gebete, Buße, Quelle und Kapelle. Nun konnte Abbé Peyramale nicht länger abwarten, zumal seine Ausflucht, eine Prozession zu organisieren sei Angelegenheit des Bischofs, bei Bernadette nicht verfing. So verlangte er, die Erscheinung müsse, wenn sie eine Kapelle wolle, endlich sagen wer sie sei. Auch solle sie zum Beweis ihrer Echtheit den Rosenstrauch in einer Nische der Grotte zum Blühen bringen.[61] Dies sollte nun, so erwarteten es große Teile der Bevölkerung,  am 4. März geschehen. Es war Markttag, und Lourdes war voller Menschen, alles drängte sich vor der Grotte. Bernadette erstarrte während der 14. Erscheinung über 45 Minuten wie in Extase, länger als je zuvor. Aquéro aber offenbarte sich wieder nicht und ließ auch den Rosenstrauch nicht erblühen. Der am 18. Februar von Aquéro gewünschte Zeitraum von zwei Wochen war ohne die erwartete Sensation zu Ende gegangen. Bernadette aber war keineswegs entmutigt.

 

Zum Fest Mariä Verkündigung, am frühen Morgen des 25. März, fühlte sie erstmals wieder die Notwendigkeit, zur Grotte zu gehen. In Anwesenheit von Kommissar Jacomet forderte sie Aquéro dreimal auf, ihren Namen zu nennen. Nach dem vierten Nachfragen geschah das Entscheidende. Das weiße Mädchen legte die Hände zusammen, schaute himmelwärts und sprach: „Que soy era Immaculada Concepciou“, auf Deutsch: „Ich bin die unbefleckte Empfängnis.“ 

 

Zwei weitere Erscheinungen an Bernadette sind noch überliefert, nämlich am 7. April und am 16. Juli. Das für den 7. April behauptete Wunder von einer Kerze, die Bernadettes Hand nicht verbrannt habe, ist später sorgfältig und plausibel als hagiographisch, aber nicht historisch, qualifiziert worden. Am 16. Juli schließlich konnte Bernadette Aquéro nur noch aus der Ferne, wie zum Abschied, winken sehen, denn die Behörden hatten den Zugang zur Grotte am 15. Juni gesperrt. 

 

Das Bild vom Abschied kennzeichnete bald auch die Lage von Bernadette. Zwar blieben die Behörden erfolglos in ihrem Bemühen, den entstehenden Wallfahrtskult zu unterbinden. Ganz Lourdes verteidigte die Grotte gegen die Polizei, gegen die gerichtliche Verfolgung erscheinungsgläubiger Frauen und gegen den kaiserlichen Präfekten. Entscheidend wurde die massenmobilisierende Unterstützung des Kultes durch den einflussreichsten katholischen Aktivisten und Journalisten seiner Zeit, Louis Veuillot, durch die Kaiserin Eugénie sowie schließlich wohl auch durch den Kaiser selbst.[62] Die Kaiserin hatte die Gouvernante ihres zweijährigen Sohnes für nähere Erkundigungen nach Lourdes geschickt, und wenig später nahm letztere den leicht erkrankten Prinzen mit nach Lourdes, wo er auch prompt geheilt worden sein soll. So trug die auf die Unterstützung des Volkes angewiesene kaiserliche Herrschaft von Napoleon III. selbst dazu bei, dass die autoritär auftretende Beamtenschaft von den einfachen Bewohnern von Lourdes ausgespielt werden konnte. Jedoch sorgte die Kirche bei aller Förderung des Glaubens an die Erscheinung nachdrücklich dafür, dass ein Kult um die Seherin Bernadette erst Jahrzehnte später entstehen konnte. Unter den Bischöfen Frankreichs war es zunächst keineswegs ausgemacht, dass man die Erscheinungen des kranken, armen und unwissenden Mädchens unterstützen würde. Als sie es dann doch sehr bald und mit Nachdruck taten, sorgte man dafür, Bernadette von der Grotte fernzuhalten, was später zu ihrer Unterbringung im Kloster führte. Was 1855 der Bischof von Grenoble zum neunten Jahrestag von La Salette verkündete, galt nun auch für Bernadette: „‚Die Aufgabe der kleinen Schafhirten ist beendet, und es  beginnt die Aufgabe der Kirche.“‘[63] 

 

Mit der Berufung einer bischöflichen Kommission zur Prüfung der Erscheinungen begann diese Mission schon Ende Juli 1858. Sie bestand aus vier Aufgaben: Die Bestätigung der Seherin Bernadette, die Kontrolle über ihre Erscheinung, der Ausbau von Lourdes zum Wallfahrtszentrum und schließlich die nachhaltige Deutung der Erscheinung als Bestätigung des Mariendogmas von der Unbefleckten Empfängnis.

 

Noch bevor Bernadette am 16. Juli 1858 ihre letzte Erscheinung erlebte, hatten schon zahlreiche Konkurrenzerscheinungen eingesetzt, die Lourdes für viele Monate in Aufregung versetzten. Während eine Vielzahl davon offenkundig kindlicher Schabernack war, gab es mehrere junge Frauen und Mädchen, deren Erscheinungsberichte der marianischen Ikonographie der Zeit in höherem Maße zu entsprechen schienen als die von Bernadette. Die Aufgabe der Kirche bestand daher nun darin, unter den vielen Erscheinungen die einzige wahre herauszufinden. Mindestens zwei der mit Bernadette konkurrierenden Seherinnen fanden in den Briefen, mit denen Abbé Peyramale seinen Bischof über die Welle marianischer Erscheinungen auf dem laufenden hielt, wohlwollende Erwähnung als Kandidatin möglicher Auserwähltheit. Da war zum einen die 22-jährige, als fromm bekannte Näherin Marie Cazenave. Über sie schrieb Peyramale, dass vieles für dieses Mädchen spräche. Sie könnte bereits Ordensschwester sein, hätten ihre Eltern nicht die Zustimmung verweigert. Ernsthaft unterstützt hat Peyramale sie jedoch nicht. Die andere Kandidatin, eine Waise namens Marie Courrech, verblieb als einzige ernsthafte Rivalin von Bernadette. Sie stammte aus Tournus in der Nähe von Garaison und lebte als Dienstmädchen im Haushalt des Bürgermeisters von Lourdes, Anselme Lacadé. Ihre Erscheinungen begannen im April 1858 und dauerten bis in den Winter. Ihre Berichte waren wesentlich detailreicher als die von Bernadette, folgten aber wohl zu offensichtlich den marianischen Konventionen. In der Beachtung des kirchlichen Kalenders konnte sie Bernadette überbieten, indem ihre Erscheinungen ihre Höhepunkte gleich an zwei Feiertagen hatten, nämlich an Mariä Himmelfahrt (15. August) und am Hochfest der Unbefleckten Empfängnis (8. Dezember). Auch kursierten, ganz wie bei Bernadette, bereits Berichte über von ihr bewirkte wunderbare Heilungen. Peyramale beschrieb sie seinem Bischof am 8. Mai 1858 sogar als „heiliges Kind, wenn es denn jemals eins gab“. [64] Man darf diese Aussage durchaus als mehrdeutig lesen und keineswegs als eine frühzeitige Festlegung. 

 

Der Bischof von Tarbes, Bertrand-Sévère Laurence, hatte die Marienverehrung und andere Formen der während Aufklärung und Revolution verachteten Volksfrömmigkeit in seiner Diözese neu belebt und schon am 11. April an den Präfekten geschrieben: „Ich möchte nur hinzufügen, dass ich das Übernatürliche für möglich halte, obgleich ich im vorliegenden Fall noch einen weiteren Beweis dafür erwarte.“[65] Bereits im Juli stellte der Bischof seine Prüfungskommission zusammen. Peyramale gehörte ihr zunächst nicht an, aber er wurde nachträglich als zwölftes und letztes Mitglied schließlich doch in sie berufen. Von nun an erwies er sich als eindeutiger Förderer von Bernadette und als ihr geistlicher Rückhalt. Wie schwierig ihr Weg werden sollte, zeigten z. B. Bestrebungen, sie für geisteskrank erklären zu lassen. Neben Bernadettes Erscheinungen sind auch die von Marie Courrech untersucht worden. Von einem Zeugen ist später bestätigt worden, dass auch sie von der Kommission befragt worden sei. Allerdings enthalten die umfangreichen Akten ihre Aussagen nicht. Es findet sich auch keine Erklärung dafür, warum sie fehlen. Indessen zeigen die Akten, dass der Fall Marie Courrech nach und nach in den Hintergrund geriet, so dass am Ende nur noch über Bernadette zu entscheiden war. Es sei in diesem Zusammenhang erwähnt, dass dem Bischof seitens der historischen Forschung ein politisch und kirchenpolitisch „vorsichtiges Management“ der Erscheinungen bescheinigt wird.79 

 

Der Grund für die Entscheidung der Kommission für Bernadette lag in der Aussage, mit der Maria sich ihr offenbart haben soll: „Ich bin die unbefleckte Empfängnis.“ Über diesen Satz ist später viel geschrieben worden. Richtigerweise hätte Aquéro sagen müssen: Ich bin die unbefleckt Empfangene. Hatte Bernadette sich verhört, hatte sie etwas missverstanden, konnte man ihr trauen? Eine solch rätselhafte, bei richtiger Würdigung gleichwohl restlos überzeugende Selbstoffenbarung Mariens hatte Bernadettes Konkurrentin, deren Erscheinungen zu offensichtlich den Konventionen folgten, nicht zu bieten. Dass Bischof Laurence noch einen weiterten Beweis für nötig hielt, darf bezweifelt werden. Bernadettes Schilderung hat ihn aus Rührung zum Weinen gebracht.[66] Da Bernadette in ihrer Einfachheit und Direktheit zudem den Eindruck erweckte, möglicherweise wirklich nicht zu wissen, was die unbefleckte Empfängnis bedeutete, erschien sie nicht nur als erste der vielen Seherinnen von Lourdes, sondern zugleich auch als die glaubwürdigste. Man sollte auch die Bedeutung der Quelle nicht unterschätzen, deren Heilkraft und damit verbundene wirtschaftliche Zukunft für Lourdes letztlich an der Echtheit von Bernadettes Erscheinung hing. Dass die Quelle bereits zuvor entdeckt worden war, ändert daran nichts. Erst durch Bernadette wurde sie bekannt und der Glaube an ihre besondere Heilkraft begründet. Die Kommission entschied, Bernadettes Erscheinung der Jungfrau von Lourdes anzuerkennen. 1862 legitimierte Bischof Laurence ihre Verehrung. 

 

Mit der Anerkennung von Bernadettes Erscheinung eng verbunden war die Notwendigkeit ihrer Kontrolle. Im Grunde hatte Bernadette die Macht über sie schon in dem Augenblick verloren, in dem sie Aquéro als Unbefleckte Empfängnis identifizierte. Zwar hatte sich Bernadette als ein mutiges und auf ihre bescheidene Weise selbstbewusstes Mädchen erwiesen, das den staatlichen Autoritäten standhalten und den machtbewussten Pfarrer Peyramale mit ihren Forderungen nach einer Prozession und dem Bau einer Kapelle beeindrucken konnte. Die aus ihr herausgepresste Identifizierung Aquéros  - es hatte der viermaligen drängenden Frage bedurft - entriss ihr die Kontrolle über das weitere Geschehen aber gleich in doppelter Weise. Zum einen errichteten die Erscheinungsgläubigen sofort eine provisorische Kapelle, veranstalteten Prozessionen und bauten Altäre, ohne sich um die noch fehlende kirchliche Erlaubnis und um die behördlichen Absperrungen zu kümmern.[67] Bereits am 25. März 1858 hatte der erst langsame, von 1862 an aber steile Aufstieg von Lourdes zum größten Wallfahrtszentrum Frankreichs begonnen. Zum andern ließen sich die Kirchenvertreter nicht davon abbringen, Bernadettes Darstellung des pétito damizélo zu korrigieren. Vergeblich insistierte Bernadette, sich möglicherweise unbewusst mit Aquéro identifizierend, bis zum Ende ihres Lebens darauf, dass ihre Erscheinung, die einer Fee aus der Märchenwelt der Pyrenäen näher kam als der Immaculata, nicht größer, sondern eher kleiner gewesen sei als sie selbst. Demnach müsste es sich um ein Kind mit einer Körpergröße von höchstens 1,40 m gehandelt haben. Die am 25. März 1858 in Gang gekommene Entwicklung aber verlangte von wohlmeinenden kirchlichen Interpreten, aus dem kindlichen Wesen eine wenngleich junge, so doch erwachsene Frau zu machen. 1864 wurde in der Grotte von Massabieille eine der marianischen Ikonographie entsprechende Statue aufgestellt, die angeblich nach Bernadettes Beschreibungen angefertigt worden war. Die Seherin hat sich mit dieser Statue, die am 3. Juli 1876 feierlich gekrönt wurde, nie abfinden können.[68] 

 

Der Ausbau der Wallfahrtsstätte von Lourdes verlangte schon bald die Entfernung von Bernadette, die sich auch selbst nach Abgeschiedenheit und Ruhe zu sehnen schien. Um sie sollte nicht vorzeitig ein Kult entstehen, der von der Wallfahrtsstätte ablenken könnte. Der Bischof entschied, wer im Kloster mit ihr sprechen durfte. Peyramale hatte frühzeitig mit dem Bau einer riesigen Pfarrkirche begonnen in der Erwartung, seine Pfarrei zum Wallfahrtszentrum ausbauen zu können. Eines ihrer Glasfenster zeigt ihn als einen schon körperlich dominanten Gottesmann, der sich eher mächtig als schützend über die kleine Bernadette beugt. Peyramale fand für sein Konzept die wirkungsvolle Unterstützung des Journalisten Louis Veuillot. Als engagierter Laie propagierte Veuillot ein Kirchenbild, das auf den volksnahen niederen Klerus setzte und nicht auf eine von Bischöfen dominierte Kirche. Bischof Laurence aber sicherte sich die diözesane Kontrolle über das neue Heiligtum mit Hilfe der Patres von Garaison, denen er die pastorale Betreuung der Pilger, die Verwaltung der Wallfahrtsstätte und anfangs auch die Aufgabe übertrug, den publizistischen Kampf für seine diözesanen Interessen zu führen. Bei der Auseinandersetzung ging es nicht nur um die Verwendung der wachsenden Einnahmen aus der Wallfahrt, sondern auch um die Deutungshoheit und die geistliche Richtung der Kirche. Diese Auseinandersetzung beeinflusste auch den Zugang zu Bernadette. Die wenigen, die sie über ihre Erscheinungserlebnisse befragen durften, interpretierten ihre Antworten entweder nach eigenen Bedürfnissen oder nach den Interessen dessen, der ihnen die Befragung erlaubt hatte. Bernadette konnte darauf keinerlei Einfluss mehr nehmen. Im Kloster lernte sie zwar lesen, aber beim Schreiben blieben ihre Erfolge begrenzt. Anders als von Cathérine Labouré und von Mélanie Calvat gibt es von ihr keine relevanten nachträglichen Aufzeichnungen.

 

Der entscheidende Teil der Mission der Kirche lag in der Deutung von Bernadettes Erscheinung als Bestätigung des Dogmas von der Unbefleckte Empfängnis Mariens. Dieser Aufgabe nahm sich das Papsttum an. So schrieb Pius XII. knapp hundert Jahre später in seiner Enzyklika Fulgens Corona von 1953, mit der er das Marianische Jahr 1954 vorbereitete: „Es scheint, als habe die seligste Jungfrau Maria selber die Lehrentscheidung, die der Stellvertreter ihres göttlichen Sohnes auf Erden … ausgesprochen hatte, auf wunderbare Weise gleichsam bestätigen wollen.“[69]

 

Kein deutsches Lourdes: Marpingen, Mettenbuch und Dietrichswalde

 

Die Entwicklung der Wallfahrt nach Lourdes hat zu vielen Nachahmungserscheinungen in Europa geführt. Die bekanntesten im 1871 gegründeten Deutschen Reich waren Marpingen 1876 (im heutigen Saarland), Mettenbuch 1877 (in Bayern) und Dietrichswalde 1877 im Ermland (heute Polen). Der britische Historiker David Blackbourn hat mit einer exzellenten und preisgekrönten Untersuchung überzeugend aufgezeigt, in welch hohem Maße zum einen der Wunsch nach einem deutschen Lourdes und zum anderen die massive staatliche Repression der katholischen Kirche während des Kulturkampfes dazu beigetragen haben, dass im Härtelwald bei Marpingen aus einem Produkt kindlicher Fantasie ein Marienkult entstehen konnte. Drei acht Jahre alte Mädchen wollten dort eine Frau in Weiß mit einem Kind auf dem Arm gesehen haben, die sich im Zuge wiederholter Befragungen als unbefleckt Empfangene identifizierte. In wenigen Tagen entstand daraus ein Kult, den die preußische Regierung weder mit dem Einsatz militärischer Gewalt, der zu 16 Verletzten unter den Erscheinungsgläubigen führte, noch durch gerichtliche Strafverfolgung eindämmen konnte. Die Erscheinungserzählung von Marpingen ebenso wie ähnliche Ereignisse im bayerischen Mettenbuch und im ermländischen Dietrichswalde waren eindeutige Nachahmungen des großen Vorbildes von Lourdes. Die Seherinnen - die achtjährige Margaretha Kunz in Marpingen, die vierzehnjährige Mathilde Sack in Mettenbuch - hatten auf je unterschiedliche Weise Kenntnis von Lourdes. Lourdes war 1875 erstmals das Ziel einer offiziellen Wallfahrt deutscher Pilger gewesen, und am 3. Juli 1876, am Tag der ersten Erscheinung im Marpinger Härtelwald, nahmen hunderttausend deutsche Katholiken und 35 deutsche Bischöfe an der feierlichen Krönung der Marienstatue von Lourdes teil.84 Die Seherkinder von Marpingen hatten im Religionsunterricht von diesem Ereignis gehört. 

 

Der für Marpingen zuständige Trierer Bischof war kurz nach seiner Entlassung aus dem Gefängnis, in das ihn die staatliche Repression während des Kulturkampfes geworfen hatte, im Juni 1876 verstorben. Die Diözese konnte im entscheidenden Moment nur behelfsmäßig aus dem Untergrund geführt werden. Während der mit den Kindern sympathisierende Pfarrer unglücklich agierte, konnten die Marpinger im Zeichen marianischer Frömmigkeit den ganzen Ort in eine Konfrontation mit den preußischen Behörden führen. Die massive Verfolgung der Kirche, während der allein in der Diözese Trier 250 Priester vor Gericht gestellt und 230 von 731 Pfarreien verwaist waren,[70] förderte die Sehnsucht nach einem hilfreichen Eingreifen der Gottesmutter und die Bereitschaft, an ein solches zu glauben. Bis heute beeindruckt der Mut der einfachen Leute von Marpingen, den Behörden zu widerstehen. Zwar gingen sie aus dem Konflikt schließlich siegreich hervor. Drei Marpinger Frauen, die wegen Verbreitung von Aberglauben vor Gericht erscheinen mussten, wurden freigesprochen, der Härtelwald wieder zugänglich. Die kirchliche Anerkennung der Erscheinung aber konnten die Marpinger nicht erreichen. Ein während der Bischofsvakanz ohne Beteiligung einer kanonischen Untersuchungskommission hilfsweise eingeholtes Gutachten von Johann Theodor Laurent, ein aus Aachen stammender Titularbischof von Chersones, angesehener Mariologe und Direktor des Ordens vom armen Kinde Jesus im luxemburgischen Echternach, hatte den Seherkindern ein vernichtendes Urteil ausgestellt und die Echtheit der Erscheinung verneint.[71] 

 

Bayern hingegen blieb vom Kulturkampf weitgehend verschont. Der Bischof von Regensburg konnte frei von äußerem Druck den behaupteten Erscheinungen von Mettenbuch durch „das Musterbeispiel eines korrekten Verfahrens nach kanonischem Recht“[72] ein Ende setzen. Zwar wurde dies von vielen Anhängern der dortigen Erscheinungen lange nicht akzeptiert, aber Mathilde Sack gestand schließlich, gelogen zu haben.88 Der neue Bischof von Trier aber sah sich gezwungen, die katholischen Reihen geschlossenen zu halten. Angesichts des sowohl trotzigen als auch tapferen Widerstandes der Marpinger gegen die Obrigkeit sogar noch nach dem Militäreinsatz im Härtelwald fand er nicht die Kraft, das während der Bischofsvakanz eingeholte Gutachten öffentlich zu machen und den Marpingern somit die kirchliche Unterstützung zu entziehen. 

 

Große Teile des heutigen Saarlands einschließlich Marpingens waren erst vor relativ kurzer Zeit zu Preußen gekommen. In dieser zutiefst katholisch geprägten Region, weit entfernt von Berlin, mögen sich viele der aus den preußischen Kernlanden entsandten Verwaltungsbeamten gewissermaßen in Feindesland gefühlt haben. Im ebenfalls tief katholisch geprägten Ermland war die preußische Verwaltung einerseits den Umgang mit Katholiken bereits viele Generationen lang gewöhnt und andererseits daran interessiert, die ethnisch polnischen Bevölkerungsteile, die sich überwiegend als Preußen verstanden, nicht vom soeben gegründeten Deutschen Reich zu entfremden. Dies mag erklären, warum das Ermland den Kulturkampf nicht so hart erleben musste wie die Katholiken in Marpingen. Auch in Dietrichswalde konnte eine kanonische Prüfung der Marienerscheinungen erfolgen. Die Angelegenheit war trotz der verbreiteten Zweisprachigkeit im Ermland nicht ganz unproblematisch, denn Maria soll zu den 12 und 13 Jahre alten Seherinnen auf Polnisch gesprochen haben. Der Prüfungsbericht wurde in deutscher und in polnischer Sprache verfasst und endete mit der Nichtanerkennung.

 

Im Januar 1889 hat Margaretha Kunz, die dominante Seherin von Marpingen, ihre Erscheinungserzählungen schriftlich, definitiv und von einer Ordensfrau bestätigt widerrufen. Das Geständnis ließ an Klarheit nichts zu wünschen: „Ich bin eins der drei Kinder, die vor beinahe dreizehn Jahren in Marpingen das Gerücht ausstreuten die Mutter Gottes gesehen zu haben und muss leider das tief demütigende Geständnis machen, dass alles ohne Ausnahme eine einzige große Lüge war.“[73] Am fortdauernden Verschweigen des vernichtenden Gutachtens von Bischof Laurent durch die Bistumsleitung änderte sich aber nichts. Dies führte indessen immer wieder zu der Forderung, die Diözese müsse die Erscheinungen von 1876 endlich untersuchen, sowie zu wiederholten Versuchen, mit immer neuen Erscheinungsberichten zum Erfolg zu kommen. 

 

Anfang 1933 wurde ohne kirchliche Genehmigung im Härtelwald eine Kapelle gebaut, die sich zum Brennpunkt einer neuen Erscheinungsbewegung entwickelte. Die Kampagne der Marienverehrer zur Weihe der Kapelle fiel zusammen mit der nationalsozialistischen Kampagne gegen die Kirche. So wiederholten sich gewissermaßen die Ereignisse von 1876. Die nationalsozialistische Kirchenverfolgung hat die öffentliche Religionsausübung stark behindern und einschränken, jedoch nicht völlig unterbinden können. Indem die Gestapo Wallfahrten nach Beauraing und Banneaux in Belgien verhinderte, wo 1932 bzw. 1933 von Marienerscheinungen berichtet worden war, trug sie dazu bei, dass sich der - vergeblich gebliebene - Druck vieler Gläubiger auf die Diözese Trier erhöhte, die Erscheinungen von Marpingen anzuerkennen. Obwohl die Diözese Trier sich bemühte, die „Erscheinungsmanie“, wie der Trierer Generalvikar die Entwicklung später bezeichnete,90 einzudämmen, hatte sie damit wenig Erfolg. Als 1937 einem neuen Bischof kurz nach seinem Amtsantritt das Geständnis von Margaretha Kunz vorgelegt wurde, beschloss er, der Kirche keine Blöße zu geben und es wieder unter Verschluss zu nehmen. Marpingen war nun nicht mehr nur der Ort von nicht approbierten Marienerscheinungen, sondern auch ein geeigneter Ort, angesichts des Nationalsozialismus die katholische Identität und Standhaftigkeit zu stärken. 

 

Eine ganz ähnliche Entwicklung war in Dietrichswalde zu beobachten. Angesichts der nationalsozialistischen Kirchenpolitik begann Maximilian Kaller, Bischof des Ermlands, im Gegensatz zu seinen Vorgängern Wallfahrten nach Dietrichswalde zu organisieren. Trotz des 1877 negativen Ergebnisses der kanonischen Untersuchung wurden die Marienerscheinungen von Dietrichswalde im kommunistisch regierten Polen im Jahre 1977 vom Ortsbischof anerkannt.

 

Als Ende des 20. Jahrhundert in Marpingen erneute Marienerscheinungen beträchtliches Aufsehen erregten - allein zwischen Mai und Oktober 1999 soll Maria 13 mal erschienen sein - , wurde der gesamte Komplex schließlich mehrere Jahre lang offiziell von einer kirchlichen Expertenkommission untersucht. Das Ergebnis wurde 2005 veröffentlicht: „Es steht nicht fest, dass den Ereignissen in Marpingen aus den Jahren 1876 und 1999 ein übernatürlicher Charakter zukommt“, und es bestünden „schwerwiegende Gründe, die es nicht erlauben, sie als übernatürliches Geschehen anzuerkennen“. Der Bischof von Trier, der spätere Erzbischof von München, Reinhard Kardinal Marx, erklärte hierzu ergänzend, dass es sowohl „humanwissenschaftlich als auch theologisch“ Unstimmigkeiten gegeben habe. Künftig dürfe weder von Erscheinungen himmlischer Personen in Marpingen noch von Botschaften des Himmels gesprochen oder geschrieben werden. Die Offenbarung sei abgeschlossen und könne nicht immer durch neue Offenbarungen erweitert werden. Die Marienverehrung aber sei nicht an eine Erscheinung geknüpft, sondern im Neuen Testament begründet. Die Marienkapelle im Marpinger Härtelwald durfte daher als Ort des Gebets und der Verehrung der Gottesmutter Maria erhalten bleiben.[74] 

 

 

IV. Die Botschaften von Fatima

 

Nach dem Sturz der Monarchie im Jahre 1910 bis zum Sturz der Republik 1926 standen Kirche und Gläubige in Portugal unter häufig wechselnden Regierungen in mehreren Phasen unter einem ähnlichen Verfolgungsdruck wie zuvor im Deutschen Reich während des Kulturkampfes. Religionsunterricht wurde verboten, katholische Feiertage abgeschafft, die Jesuiten und andere Ordensgemeinschaften enteignet und ausgewiesen, mehrere Bischöfe vertrieben.92 Hinzu kam im März 1916 der Kriegseintritt Portugals an der Seite der Alliierten, der zu der größten militärischen Mobilisierung in der Geschichte Portugals führte. 200.000 junge Männer wurden zum Kriegsdienst eingezogen. Im Frühjahr 1917 standen viele von ihnen an der Seite der Franzosen in den Schützengräben Flanderns. Im Mai 1917 führte der Mangel an Brot in Lissabon zu Unruhen, die 200 Todesopfer forderten. Im April war eine antikatholische Regierung an die Macht gekommen, die die Militärseelsorge einschränkte und im August 1917 den Patriarchen von Lissabon vertrieb. Zu dessen Erzbistum gehörte das Territorium der Diözese Leiría, die 1881 aufgelöst worden war. 1918 wurde diese Diözese, zu der Fatima gehörte, wieder eingerichtet. Ihr Bischof wurde José II. Alves Correia da Silva.

 

Mit diesen Ausführungen ist der Hintergrund gekennzeichnet, vor dem sich zwischen dem 13. Mai und dem 13. Oktober 1917 sechs Marienerscheinungen ereigneten, die zur Entstehung einer neuen portugiesischen Nationalwallfahrt führte, sich nach dem Zweiten Weltkrieg aber zur größten europäischen marianischen Wallfahrtsstätte entwickelte und einen Kult mit weltweiter Ausstrahlung begründete. Der Überblick über die Ereignisse des Jahres 1917 in Fatima erfordert zunächst einige quellenkritischen Anmerkungen.

 

Die apologetische Literatur zu Fatima zitiert unterschiedslos aus zeitnahen Dokumenten wie aus den Schriften der Seherin Lucia dos Santos, die erst in den 1930er und 1940er Jahren entstanden, ohne dem Zeitpunkt der jeweiligen Aufzeichnung Rechnung zu tragen.[75] So wird z. B. eine Botschaft Mariens vom 13. Juli 1917 als Prophezeiung der Oktoberrevolution in Russland und des Zweiten Weltkriegs präsentiert. Deren Authentizität soll auch darauf beruhen, dass die Kinder „damals überhaupt nichts von Russland“ wussten.[76] Allein schon dieses Beispiel zeigt die Notwendigkeit einer Auswertung der Erscheinungsberichte unter Beachtung der Chronologie ihrer Entstehung. In der nachfolgenden Darstellung sind aus der apologetischen Literatur die bis 1919 vorliegenden Inhalte der marianischen Botschaften herausgefiltert worden, um anschließend ihre schrittweise Ausdehnung chronologisch zu rekonstruieren.[77] Trotzdem bleibt selbst bei den frühesten Zeugnissen mitunter die Unsicherheit in der Frage, ob sie nach dem 13. Oktober, dem Tag des so genannten Sonnenwunders, überarbeitet worden sind. 

 

Am 13. Mai 1917 berichteten die zehnjährige Lucia dos Santos, der neunjährige Francisco Marto, ihr Cousin, und die siebenjährige Jacinta Marto, dessen Schwester, dass sie vor einer kleinen Steineiche bei der von einem Bach durchflossenen Talmulde Cova da Iria eine von Licht umstrahlte junge Frau gesehen hätten. Dem Ortspfarrer beschrieben die Kinder die Erscheinung als ein ca. 15 jähriges Mädchen in einem weißen, mit Gold verzierten Kleid und weißem Mantel, der über dem Kopf bis zu den Füßen hing, und mit einem weißen Rosenkranz in der rechten Hand. Die Hände soll sie vor der Brust gefaltet, zuweilen aber auch schulterbreit ausgestreckt haben. Sie habe erklärt, sie käme vom Himmel und die Kinder sollten sechs Monate lang jeweils mittags am 13. des Monats wiederkommen. Am Tag der letzten Erscheinung werde sie sagen, wer sie sei und was sie wolle. Lucias erste Frage an die Erscheinung war, wie lange der Krieg noch dauern würde. Ihre zweite lautete, ob sie, Jacinta und Francesco, in den Himmel kämen. Die erste Frage blieb unbeantwortet, die zweite wurde bejaht mit der Einschränkung, dass Francisco noch mehr beten müsse. 

 

Die Kinder befolgten die Anweisung, im Monatsabstand wiederzukommen. Am 13. Juni kamen mit ihnen 50 Erwachsene, die sie beim Gebet des Rosenkranzes und beim Empfang der erneuten Erscheinung beobachteten. Die junge Frau sagte den Kindern, dass sie lesen und schreiben lernen sollten, damit sie ihnen am letzten Tag ihren Willen mitteilen könnte. Überzeugt, dass es sich um die Gottesmutter handeln müsse, begannen die Gläubigen, die Kinder um Übermittlung ihrer Anliegen zu bitten. Am 13. Juli waren bereits zwischen 4.000 und 5.000 Menschen an der Cova da Iria. Die Erscheinung bat die Kinder, zur Beendigung des Krieges täglich den Rosenkranz zu beten. Auf Lucias Bitte um ein Wunder zur Bestätigung sagte die Erscheinung ein solches für ihr letztmaliges Kommen, also für den 13. Oktober, zu. 

 

Am 13. August konnten die Kinder nicht zur Cova da Iria kommen, weil der Bürgermeister sie zwei Tage lang in dem Ort Ourém festsetzte, um sie zu verhören und zum Widerruf ihrer Erscheinungsberichte zu drängen. Es hatten sich aber bereits ca. 15.000 Menschen eingefunden, die nun zwar nicht Maria, wohl aber Explosionen oder Donner und eine kleine weiße Wolke als Beweise für ihre Anwesenheit wahrgenommen haben wollten. Die Kinder berichteten zwei Tage später ihrem Pfarrer von ihrer vierten Erscheinung, die sie ohne Anwesenheit von Zeugen erlebt hatten. Der Heilige Joseph und das Jesuskind hätten den Frieden gebracht, sagten die Kinder, wenn sie nicht in Ourém gewesen wären. Auf Lucias Frage, was mit dem Geld geschehen solle, das man am Ort der Erscheinungen sammele, habe die Frau geantwortet, dass man Heiligenstandbilder anfertigen solle, die die Kinder beim kommenden Rosenkranzfest tragen sollten. Weiterhin wollte Lucia die Erscheinung gefragt haben, ob sie den Bruder von Jacinta und Francisco, der Soldat werden musste, zurückbringen könne. Die Antwort soll gelautet haben, sie werde alle Soldaten zurückbringen. Am 13. September lautete die Botschaft erneut, man solle zur Beendigung des Krieges den Rosenkranz beten. Lucia übermittelte wie bei den früheren Erscheinungen die Anliegen der Menge. Zudem trug sie vor, dass die Menschen sich nach einer Kapelle am Ort der Erscheinungen sehnten. Die Erscheinung modifizierte daraufhin ihre Anweisung zur Verwendung der gesammelten Spenden dahingehend, dass die Hälfte für die Heiligenstandbilder und andere Hälfte für die Kapelle verwendet werden solle.

 

Am 13. Oktober gab die Erscheinung sich in Anwesenheit von 50.000 bis 70.000 Menschen als „Unsere Liebe Frau vom Rosenkranz“ zu erkennen und verkündete das sofortige Ende des Krieges. Die Menschen könnten an dieser Stelle auf die heimkehrenden Soldaten warten. Nach dem Entschwinden der Erscheinung teilten die Kinder mit, dass sie den Heiligen Joseph mit dem Jesuskind und anschließend das Brustbild des erwachsenen Jesus gesehen hätten. Im Anschluss daran geschah das so genannte Sonnenwunder, über das nahezu alle Medien in Portugal berichteten. Bei der Befragung noch am Abend des gleichen Tages wurde protokolliert, dass Lucia nach Entschwinden der Erscheinung die Mutter Gottes erst als Mater Dolorosa und dann als Madonna vom Berge Karmel gesehen habe. Diesen Bildern wurde in späteren Deutungen viel Gewicht beigemessen. Dabei sollte berücksichtigt werden, dass außer Lucia auch die geistlichen Fragesteller und  Protokollanten von dem kosmischen Schauspiel, das umgehend als Bestätigungswunder gedeutet wurde, überwältigt gewesen sein dürften.

 

14 Tage nach der ersten Erscheinung, also bereits gegen Ende Mai 1917, hatte der Ortspfarrer Manuel Marques Ferreira die Kinder erstmals befragt, danach zeitnah nach jeder weiteren Erscheinung. Er machte sich davon jeweils Notizen, die eine frühzeitige Aufgabe objektiver Distanz erkennen ließen. Zusätzlich und unabhängig davon nahm auch Dr. Manuel N. Formigao, Professor am Lissabonner Priesterseminar, eigenständig Befragungen vor. Er war bei den beiden letzten Erscheinungen anwesend gewesen und veröffentlichte 1921 unter Pseudonym ein Büchlein, dem 1927 eine umfassende Chronik über Fatima folgte. Hinzu kamen Gutachten von verschiedenen Geistlichen und brieflich übermittelte Augenzeugenberichte. Als Lucia dos Santos Jahre später der offiziellen kirchlichen Untersuchungskommission Rede und Antwort stehen musste, war bereits eine apologetische Literatur entstanden, die eine objektive Untersuchung erschwerte oder auch kaum noch zuließ. Von den Akten dieser Kommission ist wenig bekannt geworden.  

 

Das erste, was an den frühen Erscheinungsberichten auffällt, ist, in welchem Maße sie denen von Lourdes folgen. Die Beschreibung der Erscheinung entspricht weitgehend der in der Grotte von Massabieille aufgestellten Marienstatue, wechselte sich allerdings ab mit dem Marienbild der „wundertätigen Medaille“ von 1932 mit ihren geöffneten Armen. Wie in Lourdes kündigte die Erscheinung ihr mehrfaches Wiederkommen an und hielt sich auch an den vorgegebenen Zeitplan, verbunden mit einer schrittweisen Entfaltung der Botschaft und einer späten Selbstoffenbarung. Neben der durchgängigen Präsenz des Rosenkranzgebetes verrät auch der Wunsch nach einer Kapelle das berühmte Vorbild. Dieser Wunsch allerdings wurde - ein besonders sprechendes Detail - von Lucia an die Erscheinung herangetragen und von letzterer lediglich bestätigt. Lourdes hatte gezeigt, wie wichtig eine Kapelle war, und Lucia dürfte das bewusst geworden sein - mit der Folge, dass Maria ihre erste Anweisung zur Verwendung der Spendenmittel mit einer zweiten Anweisung zulasten der Heiligenstandbilder modifizierte.

 

Zweitens bedeutet die Formung der Erscheinungsberichte nach den Mustern von Lourdes nicht, dass darin die eigentliche Bedeutung gelegen hätte. Das ursprüngliche und zentrale Thema der Kinder war die Verarbeitung der einschneidenden Erfahrung des Krieges. In ihrer Wahrnehmung des Übernatürlichen fand die Sehnsucht der Kinder ihren Ausdruck, eine Sehnsucht, die zugleich mit der allgemeinen Sehnsucht nach der Rückkehr von Brüdern, Cousins, Vätern und Ehemännern zusammenfiel. Voraussetzung für deren Rückkehr war das Ende des Krieges, welches herbeiführen zu können das Versprechen der Erscheinung war, welches wiederum die Massen in den Bann zog. Die Todesgefahr, der die engsten Verwandten in den Schützengräben ausgesetzt waren, warf für die Kinder des Weiteren die naheliegende Frage auf, ob sie denn selbst in den Himmel kämen. Schon bevor die Erscheinung sich im Zeichen des Rosenkranzes offenbarte, hatte sie Trost gespendet und Hoffnung geschenkt. Nach dem überwältigenden Ereignis des Sonnenwunders vom 13. Oktober formten sich die Aussagen der Kinder immer deutlicher entlang der marianischen Ikonographie. Aber das wichtigste Thema, das Lucia auch außerhalb der Erscheinungserlebnisse beschäftigte, blieb der Krieg und die Opfer, die er forderte, sowie die Hoffnung der Rückkehr der Soldaten nach seinem Ende. 

 

Der dritte Punkt betrifft das Machtverhältnis zwischen Staat und Kirche. Der Kult wurde in einer Phase der Konfrontation geboren, und während er sich durchsetzte, begann das Machtverhältnis sich zugunsten der Kirche zu verändern. Die religiöse Deutung ihrer Erfahrung des Übernatürlichen eröffnete den Kindern eine Möglichkeit, mit der Hoffnung auf das Kriegsende den kirchenfeindlichen Staatsvertretern etwas entgegenzusetzen: Der Heilige Joseph und das Jesuskind hätten den Krieg beendet, sagten die Kinder nach dem 13. August ihrem Pfarrer, wenn sie nicht in Ourém gewesen wären - hätte sie nicht, so ist zu ergänzen, der Bürgermeister auf dem Weg zur Cova da Iria entführt, festgesetzt und verhört. Die Kinder mobilisierten gewissermaßen den Pfarrer, und der Glaube an ihre Erscheinung mobilisierte die Massen. Wie zur Bekräftigung ihrer Aussage erschienen den Kindern der Heilige Josef und Jesus am 13. Oktober ein zweites Mal, dieses Mal aber vor

50.000 - 70.000 Zeugen, die die Erscheinungen zwar nicht sahen, den Kindern aber glaubten. In diesem von der Bevölkerung der Region geteilten Erlebnis manifestierte sich der Beginn des Wiedererstarkens der Kirche gegenüber einem ihr feindlichen Regime. Als das Militär am 6. Dezember 1917 einen Staatsstreich durchführte, deutete ihn eine integralistische Zeitung als Zeichen der „mütterlichen Hilfe der Jungfrau für unser Vaterland“ – einer Hilfe, die sie in Fatima versprochen hatte. Die weit verbreiteten Darstellungen der Jungfrau als Immaculata propagandistisch nutzend, schrieb sie weiter: „Wieder einmal hat die Jungfrau die Schlange zertreten.“[78] Zwar wurden die Putschisten schon bald wieder gestürzt. Die politische Deutung Fatimas aber, die sich so früh schon andeutete, sollte sich weiterentwickeln und Bestand haben. 

 

Zum dritten Jahrestag der ersten Erscheinung von Fatima am 13. Mai 1920 und noch einmal im Jahr darauf wurde ein Kavallerieregiment nach Fatima geschickt. Die beabsichtigte Einschüchterung der Erscheinungsgläubigen aber verlieh dem entstehenden Kult, ähnlich wie zuvor in Lourdes und in Marpingen, nur zusätzliche Schubkraft und Glaubwürdigkeit. Als am 6. März 1922 Extremisten auf die behelfsmäßige Kapelle und die Steineiche am Erscheinungsort einen Anschlag verübten, leitete die Kirche im April die bischöfliche Untersuchung der Erscheinungsberichte ein. Nachdem im Mai 1926 das portugiesische Militär definitiv die Macht ergriffen hatte, sich eine Entspannung im Verhältnis zur Kirche abzeichnete und der Präsident, General Carmona, Fatima besucht hatte, empfahl die Prüfungskommission die Anerkennung. J. Correia da Silva, Bischof der am 18. Januar 1918 wieder eingerichteten Diözese Leiría,[79] zu der Fatima gehörte, entschied im Oktober 1930, die Wallfahrt nach Fatima offiziell gutzuheißen. Als Spanien 1936 bis 1939 von einem Bürgerkrieg zwischen Liberalen, Sozialisten und Kommunisten auf der einen und katholischen Nationalisten auf der anderen Seite zerrissen wurde, verstärkte sich unter den portugiesischen Katholiken die Überzeugung, dass die Jungfrau von Fatima Portugal vor einem solchen Schicksal bewahrt habe, und „als integralistisch ausgerichtete Wallfahrt nach dem Vorbild der ultramontanen Wallfahrt von Lourdes in Frankreich erlangte Fatima einen gewissen Grad an internationaler Aufmerksamkeit“.98 

 

Die zunächst begrenzte internationale Aufmerksamkeit sollte sich bald steigern. Dafür waren drei Faktoren von Bedeutung. Der erste war der frühe Tod von Francisco (1919) und Jacinta (1920) Marto. Alle drei Kinder hatten weitere Erscheinungen und Visionen gehabt, welche die Ereignisse von 1917 überschrieben und sogleich Eingang in die Fatima-Literatur fanden. Nun war es aber allein Lucia, die über die gemeinsamen Erlebnisse verfügen und an ihrer weiterten Deutung arbeiten konnte. Als besonders wirkmächtig sollte sich Lucias Umgang mit dem Geheimnis erweisen, das Maria den Kindern anvertraut hatte. Die apologetische Literatur interpretierte bereits das Verhör der Seherkinder vom 13. August 1917 als Versuch der Staatsgewalt, ihnen ihr Geheimnis zu entreißen.[80] Der zweite Faktor war der Einfluss von Geistlichen auf Lucia. Er wuchs an, seit Lucia sich auf den Eintritt in eine Ordensgemeinschaft vorbereitete. Anfangs waren es ihre Beichtväter, später der Bischof von Leiría und sein Beauftragter Dr. José Galamba de Oliveira. Dieser bedrängte sie, wie es in der apologetischen Literatur heißt, mit „aufdringlichen Fragen“ und drohte „ihr sogar mit dem Fegefeuer“, „wenn sie etwas verschweigen würde“.[81] Der dritte Faktor war der Einfluss des Spanischen Bürgerkrieges. Sr. Lucia erlebte ihn in einem Kloster auf spanischem Boden. Die Spaltung Spaniens in Antiklerikale und Katholiken musste ihr wie eine verschärfte Wiederholung der Erfahrungen ihrer Kindheit in Portugal erscheinen. Die erneute Kirchenverfolgung nahm sie aber auch als Fortsetzung der Kirchenverfolgung in Russland wahr, der nach der bolschewistischen Revolution eingesetzt hatte und sich mit dem Zweiten Weltkrieg fortsetzte. Die Folge war, dass sich die auf den Ersten Weltkrieg und auf Portugal bezogene Botschaft von Fatima räumlich und zeitlich auf Russland und den Zweiten Weltkrieg ausdehnte, so dass man im Grunde zwischen zwei Fatimas deutlich unterscheiden muss. Aus einem portugiesischen Lourdes wurde ein globales, und seine Botschaft wandelte sich von einem Aufruf Portugals zu Gebet und Buße zu einem Auftrag zur Bekehrung Russlands.

 

Diese Entwicklung lässt sich anhand mehrerer Schritte nachzeichnen: Als Schülerin an einer Schule des Dorotheenordens bei Porto, in die sie im Juni 1921, im Alter von 14 Jahren, gebracht wurde und wo sie lesen und schreiben lernte, schrieb Lucia auf Aufforderung ihres Beichtvaters, Manuel Pereira Lopes, im Januar 1922 erstmals selbst ihre Erinnerungen an Fatima auf. Dabei hielt sie sich im wesentlichen an das, was sich bereits in den Protokollen ihres Pfarrers findet. Sie fügte aber den Hinweis auf ein Geheimnis hinzu, das ihr am 13. Juli offenbart worden sei. 

 

Als Postulantin des Dorotheenordens im spanischen Pontevedra berichtete sie ihrem Beichtvater von neuen Visionen. Diese hatte sie Ende 1925 und im Februar 1926 erlebt. 1927 war sie Novizin in der spanischen Stadt Tuy. Auch ihrem dortigen Beichtvater, Jose Aparicio da Silva SJ, berichtete sie von diesen neuen Visionen. Darin hatte sie von Maria Anweisungen  über eine Andacht erhalten, „die zur Versöhnung der Menschheit mit Gott beitragen könne: die Andacht zum Unbefleckten Herzen Marias“.[82] Diese Visionen ähnelten denen einer Visionärin aus dem 17. Jahrhundert namens Marie-Marguerite Alacoque, welche die Freitags-Andacht zum Heiligen Herzen Jesu legitimierten. Sie wurden aber nun auf Maria bezogen, und sie erinnerten an die Medaille von 1832, deren Rückseite die Herzen von Jesus und Maria zeigte.

 

Diese neuen Visionen veranlassten Jose Aparicio da Silva SJ im Dezember 1927, Sr. Lucia um einen erneuten Bericht über ihre Erfahrungen von 1917 zu bitten. Sie sollte nun die Frage beantworten, ob die Forderung nach einer Andacht zum Unbefleckten Herzen Marias nicht schon Teil der Botschaft von 1917 gewesen sein könnte. Lucia zögerte zunächst und zeigte sich überzeugt, die ihr in Fatima anvertrauten Geheimnisse wahren zu müssen. Zur Lösung dieses Problems wurde ihr am 17. Dezember 1927 eine weitere Vision zuteil, die ihr diesmal Jesus selbst zeigt. Nun durfte Sr. Lucia berichtenen. So schrieb sie, Maria habe, als sie ihr 1917 den frühen Tod von Francisco und Jacinta ankündigte, im Hinblick auf ihre zukünftige Aufgabe mitgeteilt: „Jesus will sich Deiner bedienen, um Mich erkennen und lieben zu machen. Er will in der Welt die Andacht zu meinem Unbefleckten Herzen aufrichten.“[83] Mit anderen Worten: „Diese Andacht, die später im FatimaKult eine zentrale Rolle spielen sollte, wurde also erstmals 1925/26 erwähnt und Ende des Jahres 1927 zum Bestandteil der Erscheinungen von 1917 erklärt.“ Diese neue Vision wurde kurz nach Ausbruch des Zweiten Weltkrieges vom Bischof von Leiría anerkannt.[84] 

 

Im Mai 1930 schickte José Bernardo Concalves SJ, Lucias neuer Beichtvater und Vertrauter im Kloster von Tuy, ihr die Anfrage, ob die Bitte Mariens um eine Sühneandacht zu ihrem Unbefleckten Herzen nicht mit der Kirchenverfolgung in der Sowjetunion zu tun haben könnte. Hintergrund diese Anfrage könnte sein, dass Papst Pius XI. in einem Schreiben „an seinen Kardinalvikar Basilius Pompili vom 2. Februar 1930 die Katholiken der Welt zu einem ‚Kreuzzug des Gebetes’“ aufgerufen hatte, der ein ‚„Wendepunkt im Kampf aller Kulturvölker gegen den Bolschewismus’ sein“ sollte.[85] Lucia antwortete, dass Gott diese Verfolgungen zu beenden versprochen habe, „wenn der Heilige Vater zusammen mit allen Bischöfen in der katholischen Welt einen feierlichen und öffentlichen Akt der Wiedergutmachung und der Weihe Russlands an die Heiligsten Herzen Jesu und Marias durchzuführen sich herabließe.“[86] 

 

1899 hatte Papst Leo XIII. die Welt dem Herzen Jesu geweiht. Diese Weihe war während und nach dem Ersten Weltkrieg in mehreren Ländern Europas in je nationalem Rahmen wiederholt worden. In Portugal war das 1928 geschehen. Die Weihe eines Landes mit großer katholischer Bevölkerung an das Herz Jesu war mithin nicht neu. Neu war allerdings die Idee einer Weihe an das Herz Mariens und zudem eines Landes wie Russland, in dem fast keine Katholiken lebten. Nachdem Sr. Lucia die Verknüpfung der Weihe Russlands mit dem Wunsch Mariens nach einer Sühneandacht an ihr Unbeflecktes Herz zugelassen hatte, wurde auch dieses Anliegen als ein 1917 von Maria bekundeter Wunsch zurückdatiert.

 

Anlässlich der Umbettung des Leichnams von Jacinta Marto im Jahre 1935 bat Bischof da

Silva Sr. Lucia, ihre Erinnerungen an sie und die neuen Erscheinungen, die Jacinta vor ihrem Tode gehabt hatte, umfassend aufzuschreiben. Lucia schrieb umgehend einen Text, der als „Erste Erinnerung“ bekannt wurde.

 

Im April 1937 regte der italienische Fatima-Autor Luigi Gonzaga da Fonseca SJ gegenüber Bischof da Silva an, dieser möge Sr. Lucia veranlassen, gewissenhaft ‚„die Einzelheiten, an die sie sich noch erinnert, bis ins Kleinste niederzuschreiben‘“.[87] Ergebnis war die im November 1937 niedergeschriebene „Zweite Erinnerung“. Darin berichtete Sr. Lucia u.a. erstmals auch von drei Engelserscheinungen, die sie und die anderen Seherkinder schon im Jahr 1916 erlebt hatten, darunter der „Engel Portugals“ und der „Engel des Friedens“. Vor ihrem Elternhaus soll der „Engel Portugals“ den spielenden Kindern gesagt haben: „Betet, betet viel. Die Herzen Jesu und Mariens haben mit euch Pläne der Barmherzigkeit vor.“[88] 

 

Im Juli 1941 bedrängte Bischof da Silva Sr. Lucia im Zusammenhang mit der Neuauflage der Publikation über Jacinta erneut, „einen tieferen Einblick in Jacintas Innenleben zu gewähren“. Der daraufhin von ihr im August 1941 gelieferte Text war Lucias „Dritte Erinnerung“. Wenig später besuchten der Bischof und Luigi Gonzaga da Fonseca SJ Sr. Lucia, um sie im direkten persönlichen Gespräch um zusätzliche Erinnerungen an Jacinta, um weitere Aufzeichnungen über Francisco und schließlich sogar um Prüfung und Korrektur der neuen Auflage des Fatima-Buches von Fonseca zu bitten. Lucia kam diesen Bitten im Dezember 1941 mit ihrer „Vierten Erinnerung“ nach. 1942 erschien Fonsecas Buch in einer nunmehr um die „vierte Erinnerung“ erweiterten und von der Seherin autorisierten vierten italienischen Auflage. Dieses Werk erschien 1944 in der Schweiz auch erstmals in deutscher Sprache. 

 

In ihren Erinnerungen offenbarte Sr. Lucia das, was in der Fatima-Literatur als erstes und als zweites Geheimnis firmiert. Das erste Geheimnis, angeblich am 13. Juli 1917 enthüllt, stellte eine Vision der Hölle dar und drohte in apokalyptischen Bildern einen neuen Krieg an, der, wie bereits erwähnt, als der Zweite Weltkrieg gedeutet wurde. Niedergeschrieben wurde es nach dem deutschen Angriff auf die Sowjetunion im August 1941. Das zweite Geheimnis enthielt demgegenüber nichts wesentlich Anderes. Die blutigen Realitäten seit dem Spanischen Bürgerkrieg und dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs wurden durch einen jahrelangen Prozess, der mit immer neuen Erweiterungen und Rückdatierungen verbunden war, in marianische Prophetien und apokalyptische Strafandrohungen umgemünzt und in die Botschaft von Fatima eingearbeitet. Daraus entwickelte sich ein Kult der Marienverehrung, dessen wirkmächtigste Elemente die im Dialog Sr. Lucias mit ihren Beichtvätern entwickelten Anliegen einer Sühneandacht und einer Weihe Russlands darstellten. In Lucias dritter und vierter Erinnerung heißt es dazu gleichlautend: „Wenn man auf meine Wünsche hört, wird Russland sich bekehren und es wird Friede sein; wenn nicht, wird es seine Irrlehren über die Welt verbreiten, wird Kriege und Kirchenverfolgungen heraufbeschwören, die Guten werden gemartert werden, der Heilige Vater wird viel zu leiden haben, verschiedene Nationen werden vernichtet, am Ende aber wird mein Unbeflecktes Herz triumphieren. Der Heilige Vater wird mir Russland weihen, das sich bekehren wird, und der Welt wird eine Zeit des Friedens geschenkt werden.“[89] 

 

Seit den 1930er Jahren förderten die Bischöfe Portugals ihre neue Nationalwallfahrt nach Fatima auch als Maßnahme zum Schutz vor Revolution und Kommunismus. Am 31. Oktober 1942 erkannte Papst Pius XII. im Rahmen einer vom Rundfunk übertragenen Ansprache die Fatima-Wallfahrt als Quelle der katholischen Revitalisierung in Portugal an. Der Forderung nach einer exklusiven Marienweihe Russlands indessen kam er nicht nach. Er trug Bedenken unter päpstlichen Beratern Rechnung, dass in Russland kaum Katholiken lebten. Außerdem stand nicht allein Russland, sondern fast die gesamte Welt im Krieg. Statt Russland an Maria zu weihen, sprach der Papst ein Weihegebet an Maria mit der Bitte um Hilfe in der Kriegszeit. Dafür übereignete er sich in seiner Person als Vertreter der gesamten Menschheit der Gottesmutter. Am Fest der Unbefleckten Empfängnis am 8. Dezember 1942 wiederholte er diesen Weiheakt. 1944 verankerte er das am 22. August zu begehende Fest des Unbefleckten Herzens Mariens im liturgischen Kalender. Dies alles stellte Sr. Lucia  und ihre geistlichen Inspiratoren nicht zufrieden. Nach dem Kriegsende aber entfiel ein Teil der Bedenken, und Fatima entwickelte sich weiter. Am 13. Mai 1946 setzte Kardinal Masala als päpstlicher Legat der Fatima-Madonna eine Krone auf, die aus Schmuckstücken gefertigt worden war, die portugiesische Gläubige zum Dank dafür gespendet hatte, dass Maria sie vor dem Krieg bewahrt hatte. 1952 weihte der Papst alle Völker Russlands dem Unbefleckten Herzen Mariens  erfüllte damit die vermeintliche marianische Forderung von 1917.

 

Trotz der erst späteren Weihe Russlands sind mit der päpstlichen Anerkennung Fatimas mitten im Zweiten Weltkrieg schwerwiegende Probleme verbunden. 1930 hatte man mit einem Marienkult zu tun, der in ähnlicher Weise wie Lourdes in Frankreich die Revitalisierung der Kirche gefördert hatte. Der Ruf Mariens nach Bekehrung Russlands aber konnte sich im Zweiten Weltkrieg allzu leicht mit der Bekämpfung des Kommunismus mischen. Die Gräueltaten während des Spanischen Bürgerkrieges hatten bei Sr. Lucia und ihren kirchlichen Inspiratoren zu einer verzerrten Wahrnehmung der Ursachen des Zweiten Weltkrieges geführt. Lucia sah nur die Fortsetzung der sowjetischen Christenverfolgung und ihre Ausdehnung nach Europa. Die Kirche und die gesamte Menschheit aber wurden ebenso vom Nationalsozialismus bedroht, und zugleich wurde das Judentum nahezu vernichtet. Die Fixierung des Fatima-Kultes auf das Leid und die Bedrohung der Christen hat den Blick darauf verstellt. Während der Fatimakult durch die päpstliche Marienweihe Ende 1942 als marianische Botschaft des Friedens für die Welt propagiert wurde, erwies er sich infolge der Nichtwahrnehmung des Holocausts als mit einem beklemmenden Manko behaftet, das den eigentlich mit der Botschaft verbundenen universalen Anspruch unterminierte. Die Marienweihe der Völker Russlands im Jahre 1952 setzte die politische Instrumentalisierung Fatimas dann im Kalten Krieg fort. 

 

Während des Kalten Krieges wurde dem so genannten dritten Teil des Geheimnisses von Fatima große Aufmerksamkeit gewidmet. Nachdem Sr. Lucia von einer ernsthaften Erkrankung genesen war, ließ sie sich von Bischof da Silva dazu bewegen, Anfang 1944 auch den letzten Teil ihres Geheimnisses aufzuschreiben und ihm zur Verwahrung zu geben. Sr. Lucia zufolge wünschte die Gottesmutter, dass sein Inhalt 1960 veröffentlicht würde. Um diesen Text, der nach dem Tode des Bischofs 1957 von der Kongregation für das Heilige Offizium angefordert und 1958 von Papst Johannes XXIII. angeblich gelesen, dann aber wieder unter Verschluss genommen wurde,[90] rankten sich mitten im Kalten Krieg geradezu abenteuerliche Spekulationen. Einer deutschen Zeitung zufolge soll eine „diplomatische Version“ seines Inhalts, die angelblich von Papst Paul VI. „auf dem Höhepunkt der Kuba-Krise den Regierungen in Washington, London und Moskau“ zugespielt wurde, die Einigung der Atommächte auf den Atomwaffensperrvertrag von 1963 herbeigeführt haben.[91] Als die Kongregation für die Glaubenslehre den Text im Jahre 2000 schließlich veröffentlichte, bemühte sie sich, übertriebenen Erwartungen und jeglicher Dramatisierung entgegenzuwirken. „Wer den Text … aufmerksam liest“, schrieb ihr damaliger Präsident Joseph Kardinal Ratzinger, „wird … vermutlich enttäuscht oder verwundert sein. Keine großen Geheimnisse werden enthüllt; der Vorhang der Zukunft wird nicht aufgerissen.“[92] 

 

 

V. Heroldsbach oder kein deutsches Fatima

 

Im Jahre 1943 folgten die deutschen Bischöfe dem Beispiel des Papstes und weihten ihre Bistümer an das Unbefleckte Herz Mariens. Sie bewiesen damit ihr Interesse, die Botschaft von Fatima in ihre Seelsorge zu integrieren. Zur geistlichen Vorbereitung der Marienweihe schickten die Seelsorgeämter der Diözesen Informationsmaterial und Hinweise für die während der Gottesdienste zu haltenden Predigten. Dadurch konnten die Gläubigen in Deutschland während des Krieges erstmals auf breiter Basis offizielle kirchliche Informationen über Fatima erhalten. Die eigentliche Rezeption des Fatimakultes aber begann erst nach 1945. Als ein belgischer Pater im April 1947 die Wanderung einer Fatima-Madonna von der portugiesischen Cova da Iria bis nach Maastricht organisierte, eine Pilgermadonna von Ende 1947 bis 1950 die USA durchquerte und Fatima-Bildnisse durch viele Länder Afrikas und Asiens getragen wurden, haben auch deutsche Fatima-Anhänger an ihre Bischöfe den Wunsch gerichtet, in ihren Diözesen ähnliches zu veranstalten.

 

An die spätestens seit 1942 antikommunistisch interpretierbare Botschaft von Fatima konnte die deutsche Nachkriegsgesellschaft leicht anknüpfen. Nach dem schuldhaft verursachten, mit Kriegsverbrechen bisher ungekannten Ausmaßes und mit der Schoah verbundenen und schließlich verlustreich verlorenen Weltkrieg erleichterte sie den heimkehrenden Soldaten und ihren Familien die Rückbesinnung auf ihren zwischenzeitlich sehr gefährdeten Glauben. Im Kalten Krieg sahen sie sich erneut der Kriegsgefahr ausgesetzt, vor der die Jungfrau von Fatima gewarnt hatte. Verschärft wurde sie dadurch, dass bald nach der USA auch die Sowjetunion Atomwaffen herstellen konnte und atomar aufrüstete. 

 

Am 15. August 1949 behauptete ein Bruder Adam vom Deutschen Ritterorden, von Maria die Botschaft erhalten zu haben, dass der neue Krieg im Südosten ausbrechen werde, dies aber eine List sei und Russland in Wahrheit über die skandinavischen Länder einfallen und bis zum Rhein vorstoßen werde.[93] Nachdem am selben Tag im Bürgersaal der Marianischen Vereinigung in München eine Fatima-Statue aufgestellt worden war, forderte ein bayerischer Beamter in Briefen vom 17. August an Erzbischof Kardinal Faulhaber und die (Erz)Bischöfe von Bamberg und Eichstätt eine Rundreise dieser Statue durch die Diözesen: „Die Lage hart an der Grenze der Bolschewisten erfordert Gebetsstürme für den Frieden und für die Änderung der Diktatur zur Demokratie des Bolschewismus von innen heraus, … . Den Weg werden Heimkehrer, Bombengeschädigte, Flüchtlinge, Kranke säumen … Stalin wollte auch München und überhaupt auch Bayern besetzen. … Haben wir Bayern nicht allen Grund eine große Dankprozession zu veranstalten, eingedenk der Worte der Muttergottes von Fatima: ‚Rußland wird sich bekehren, wenn wir beten!‘“[94] Die bayerische Regierung zeigte sich bereit, eine solche Rundreise, für die ein Zeitraum von drei Jahren vorgesehen war, organisatorisch zu unterstützen. Der Bamberger Pfarrer schrieb dazu am 13. November 1949: „An der Echtheit der Fatima-Erscheinungen und Fatima-Botschaft ist nicht zu zweifeln. Der Heilige Vater hat sie anerkannt. … Die drohende, unheilvolle Weltlage drängt uns, auf Mittel und Wege zu sinnen, wie wir sie überwinden könnten. Maria hat uns in Fatima den Weg gezeigt. Der geplante Gebetszug würde mehr bedeuten als die diplomatischen Manöver der

Großmächte. … Die Erfahrungen in anderen Ländern wie in Spanien sind außerordentlich gute.“[95] 

 

Indessen kam es nicht in Bayern, sondern erst fünf Jahre später und nur in der Erzdiözese Köln zur Rundreise einer eigens aus Portugal eingeflogenen Fatima - Statue. Kardinal Faulhaber in München hatte eine solche Aktion abgelehnt. Der Erzbischof von Bamberg stellte dann das Fest der Unbefleckten Empfängnis am 8. Dezember 1949 unter das Motto von Fatima und erläuterte seinem Klerus, er wolle die Marienweihe von 1943 wiederholen. Die Mehrzahl der deutschen Bischöfe aber zeigte sich skeptisch. Es sollte bis zum 4. September 1954 dauern, bis Kardinal Frings in Fulda nicht Deutschland oder das deutsche Volk, sondern die katholischen Kirchenmitglieder in Deutschland dem Herzen Mariens weihte. 

 

Die deutschen Bischöfe sahen in der Rezeption und Verbreitung der Botschaft von Fatima in erster Linie eine willkommene Möglichkeit zur Stärkung der Marienfrömmigkeit und zur Wiederaufrichtung der Kirche. Der vorherrschenden antikommunistischen Deutung dieser Botschaft haben sie nicht widersprochen, sie sich andererseits aber auch nicht zu eigen gemacht. Im Gegensatz zum päpstlichen Vorbild richtete Kardinal Frings das Weihegebet nicht an Maria, sondern an Gott. Die Bischofskonferenz formulierte das Weihegebet in vorsichtiger Weise so, dass es dem verbreiteten marianischen Aktivismus nicht zusätzlichen Schub verlieh, nahm Rücksicht auf die konfessionelle Verschiedenheit in Deutschland und wartete auf das Marianische Jahr 1954 als passenden Anlass.

 

Neben der nach wie vor verbreiteten Popularität von Lourdes und den wachsenden Ängsten vor einem neuen Krieg prägte auch die kirchenoffizielle Rezeption des Fatima-Kultes den Hintergrund, vor dem sich in den ersten zehn Nachkriegsjahren allein im westlichen Teil Deutschlands elf registrierte Marienerscheinungen ereigneten, denen jeweils ungezählte nicht registrierte folgten. Fünf der registrierten Erscheinungen entfielen auf Süddeutschland (Marienfried 1946, Tannhausen/Forstweiler 1947, Würzburg 1949, München 1947 und Heroldsbach 1949), vier auf das Rheinland (Düren 1949, Remagen 1950, Niederhabach 1952 und Pingsdorf bei Brühl 1954) und zwei auf die Pfalz, darunter Fehrbach 1949. Mehrere dieser Erscheinungen wurden kirchlich als Nachahmungserscheinungen eingestuft, keine wurde anerkannt. 

 

Am Beispiel Heroldsbach lassen sich die Kräfte aufzeigen, die nach 1945 die Flut marianischer Erscheinungsereignisse beförderten. Die Seherinnen in Heroldsbach waren vier, später fünf Mädchen von zehn und elf Jahren. Zeitungsberichten zufolge hatten sie im Kino die populäre deutsche Fassung der amerikanischen Verfilmung des Lourdes-Romans von Franz Werfel gesehen. Sie waren von dem Wunsch beseelt, auch einmal die Mutter Gottes sehen zu dürfen. Wichtigster Aktivist in Heroldsbach war Dr. Johann Baptist Walz, ein Professor für Dogmatik. Während des Krieges hatte er sich als bekennender Nationalsozialist hervorgetan. Zur Zeit der Ereignisse war er deshalb suspendiert gewesen. Der Bamberger Erzbischof war zunächst den Erscheinungen gegenüber positiv eingestellt und vermochte es später nicht, die auf den Plan getretenen unwillkommenen Kräfte zu bändigen. Der Pfarrer von Heroldsbach förderte die  Erscheinungsgläubigkeit auch nach dem bischöflichen Veto, bis er seines Amtes enthoben wurde. 

 

Das mehrjährige Drama begann am 9. Oktober 1949. Vier Mädchen wollten eine weißgekleidete Frau gesehen und in ihr die Gottesmutter erkannt haben. Diese forderte sie vier Tage später auf zu beten. Weitere acht Tage später verlangte sie neben Gebeten auch Buße. Dr. Walz nahm an einer Reihe der mit seiner Hilfe öffentlichkeitswirksam inszenierten Erscheinungsereignissen teil und richtete eigene Fragen an die Erscheinung. Eine davon war die, ob es zutreffe, dass sie leibhaftig in den Himmel aufgenommen worden sei, was die Seherinnen im Auftrag der Jungfrau mit ‚ja‘ beantworteten. Dr. Walz nahm selbst die Befragungen der Kinder vor und organisierte die Medienberichterstattung. Am 8. Dezember 1949 behaupteten während eines solchen Massenereignisses erst einzelne, dann immer mehr Teilnehmer, die Muttergottes in einer sich drehenden Sonne wahrzunehmen.[96] Dr. Walz sammelte während und nach den Erscheinungen Beweise für ihre Echtheit, die er 1958 in einem dreibändigen Werk veröffentlichen sollte. Nach einem Besuch beim Erzbischof glaubte er, dessen Einverständnis für seine Aktivitäten zu haben. Die dramatische Wende aber kam an Heiligabend. Die Sehermädchen gingen, nachdem Maria ihrer Forderung nach einer Kapelle und nach Aufstellung eines Marienbildes Nachdruck verliehen hatte, weit über die seit Lourdes und Fatima bekannten Muster hinaus und behaupteten, auch den Heiligen Josef, die weihnachtliche Krippenszene, die Hirten und Engel und schließlich die drei Könige über dem Birkenwald schwebend gesehen zu haben. Als Dr. Walz seine gesammelten Berichte über diese beeindruckende Entwicklung dem Erzbischof überreichen wollte, beschied dieser ihn abschlägig: „Hans, nimm sie wieder mit, du blamierst damit die ganze Theologie“.[97] 

 

Der Erzbischof verbot daraufhin im Januar 1950 seinem Klerus, an den Ereignissen teilzunehmen und Fragen an die Erscheinung zu richten. Weiterhin entschied er, dass die Mädchen nur noch von seiner offiziellen Untersuchungskommission befragt werden durften. Ausdrücklich verbot er die Organisation von Wallfahrten, Prozessionen und Sammlungen von Spenden sowie die Verteilung von Schriftenmaterial über Heroldsbach. Trotz mehrfacher Wiederholung dieser Verbote wuchsen die Massen der Pilger weiter an. Nun nahmen Laien die Sache in die Hand und organisierten z.T. mehrmals am Tag Prozessionen und Marienandachten. Deren Höhepunkte bestanden jeweils im Empfang neuer Botschaften des Himmels. Die Mädchen sahen Maria erneut über den Birken schweben und hörten sie, wie die von Dr. Walz veröffentlichten Protokolle bezeugen, die Worte verkünden: „Wenn die Leute meinen Wunsch nicht erfüllen, wird viel Blut fließen. … Dann werden die Russen kommen und euch erschlagen.“[98] 

 

Entgegen der strengen erzbischöflichen Anweisung, sich fernzuhalten, hatte der Ortspfarrer bei diesen Ereignissen weiter Protokoll geführt. Es entstand die Gattung der so genannten Russenvisionen, in denen es von Panzern und Soldaten wimmelte, eine Kerze in finsteren Häusern brannte und abgemagerte Kinder sich wegen des Schwefelgeruchs die Nase zuhielten. Auch kündigte Maria an, die bischöfliche Untersuchungskommission zu strafen. Von März bis Mai 1950 wurde mit Löffeln nach einer Quelle gegraben, die Maria den Mädchen offenbart haben soll. Am 16. Juni 1950 kündigte Jesus einen baldigen Krieg an. Nach dem Ausbruch des Koreakrieges am 25. Juni verhalf dies den Erscheinungen zu erneuter Glaubwürdigkeit. Aus Bamberg um Hilfe gebeten, verkündete das Heilige Offizium in Rom am 28. September 1950, dass die Übernatürlichkeit der Tatsachen nicht feststehe und die Gläubigen ihrem Hirten Folge zu leisten hätten. Am 31. Oktober 1950, in der Nacht zum Tag der Verkündigung des Dogmas von der Leiblichen Aufnahme Mariens in den Himmel, bezeugten Hunderte von Erwachsenen vor Tausenden von Zeugen, die Mutter Gottes gesehen zu haben. Zum Jahrestag des Heroldsbacher Sonnenwunders, am 8. Dezember 1950, kamen ca. 50.000 Pilger. Das große Vorbild von Fatima beschwörend, reisten sie jeweils zum 13. eines jeden Monats in besonders großen Zahlen an. Schließlich verkündete Rom am 25. Juli 1951,  es stehe fest, „dass die genannten Erscheinungen nicht übernatürlich sind. Darum wird der diesbezügliche Kult im … Ort und auch anderswo verboten.“[99] Erst nachdem bekannten Heroldsbach-Anhängern die Kommunion verweigert, der Pfarrer seines Amtes enthoben und 40 zentrale Akteure einschließlich der Sehermädchen exkommuniziert worden waren, berichteten diese am 31. Oktober 1952, dass Maria sich endgültig verabschiedet habe. In einem Brief an den Papst hatten sie im September um Aufhebung der Exkommunikation gebeten, aber gleichwohl auf der Wahrheit ihrer Visionen beharrt.[100]  

VI.  Die Rolle der Päpste

 

Die kirchlich anerkannten Marienerscheinungen zwischen 1830 und 1949 waren nicht zuletzt auch deshalb so erfolgreich, weil sie die volle Unterstützung durch die Päpste hatten. Sie standen im Kontext einer Revitalisierung der Kirche, die infolge der Französischen Revolution ihrer bisherigen materiellen Grundlagen beraubt worden war. Wichtiger Faktor ihres Wiederaufstieges als ernstzunehmende spirituelle Macht war ihre Hinwendung zu vielen Formen der Volksfrömmigkeit, darunter insbesondere die Marienverehrung.[101]

 

Papst Pius IX. war nach Auffassung seiner Biographen davon überzeugt, dass Maria ihn von der Epilepsie geheilt und ihm damit den Weg in den Klerus und an die Spitze der Kirche erst ermöglicht hatte. Bescheinigt wird ihm auch ein „Hang zum Mystizismus und zu außergewöhnlichen religiösen Phänomenen“.[102] Als glühender Marienverehrer förderte er die große Beachtung, die die marianischen Erscheinungen unter den Gläubigen fanden. Gleich nach der bischöflichen Approbation der Erscheinung von La Salette begann er, Priestern Privilegien zu gewähren, wenn sie La Salette oder die nach La Salette benannten Bruderschaften besuchten.[103] Durch die Förderung der Marienverehrung in einer erstarkenden, zunehmend auf den Papst ausgerichteten Kirche bereitete Pius IX. das Dogma von der Unbefleckten Empfängnis Mariens im Jahre 1854 vor. Dieses Dogma sah er dann umgekehrt durch die Erscheinung von Lourdes legitimiert, um alsdann mit deren Hilfe die weiteren Grundlagen für den Neuaufbau der Kirche unter seiner Führung zu legen.

 

Das Dogma der Immaculata war bis unmittelbar vor seiner Verkündigung unter den theologischen Experten umstritten gewesen. Mit ihm veränderte Pius IX. die Lehre von den Voraussetzungen für die Dogmatisierung einer Glaubenswahrheit. Filippo Cossa, Professor für Dogmatik an der Universität Gregoriana, hatte im Rahmen eines Gutachtens auf der Grundlage der bis dahin gültigen Lehre noch argumentiert, dass es prinzipiell unmöglich sei, die Immaculata zum Dogma zu erheben: „Was in den Erkenntnisquellen von Schrift und Tradition nicht eindeutig stehe, dürfe nicht in sie hineingelesen werden.“[104] Zugleich aber hatte Cossa „Zuflucht zu einem beliebten Stilmittel römischer Gutachter“ genommen und erklärt, er habe „nur seine unmaßgebliche persönliche Meinung dargelegt“ und würde, wenn der Heilige Vater dieses Dogma vorlegen sollte, es „ganz selbstverständlich glauben wie alle anderen Dogmen auch.“ [105]  Dabei ging es in Wahrheit nicht nur um den Inhalt des neuen Dogmas, „sondern um die Art und Weise der Proklamation desselben“, denn diese erfolgte nicht wie bisher durch den Papst gemeinsam mit den Bischöfen der Kirche, sondern durch den Papst allein. „Damit ist also die Unfehlbarkeit des Heiligen Vaters proklamiert, die der Heilige Vater nicht unmittelbar zum Dogma erheben kann. Und in dieser mittelbaren Erhebung des Heiligen Vaters liegt die eigentliche Bedeutung … der bevorstehenden Feierlichkeit“.[106]

 

Auf derselben Linie argumentierte auch der Wiener Theologieprofessor Clemens Schrader in einer anonym publizierten Schrift von 1865, dass Pius IX. mit dem Dogma der Immaculata zugleich auch die Unfehlbarkeit des Papstes ‚„zwar nicht theoretisch definiert, aber praktisch in Anspruch genommen‘“ habe.[107] Beide Theologen hatten in einem Punkte recht, denn bereits mit der Proklamation dieses Dogmas galt: „An die Stelle von Schrift und Tradition trat der Papst. Er war von nun an die Kirche.“[108] In dem anderen Punkt aber haben sie sich geirrt: Eben weil es dem Papst gelungen war, die von dem Konzil von Trient statuierten Kriterien Schrift und Tradition durch das Postulat eines umfassenden höchsten päpstlichen Lehramtes zu ersetzen, konnte es ihm 16 Jahre später auf dem Ersten Vatikanischen Konzil im Jahre 1870 gelingen, die päpstliche Unfehlbarkeit dann doch, und dies am Ende sogar fast ohne nennenswerten Widerstand, zum Dogma zu erheben.

 

Für eben diese Entwicklung, die von der Neuinterpretation des Konzils von Trient über das Dogma der Unbefleckten Empfängnis zur päpstlichen Unfehlbarkeit führte, hatte die Marienerscheinung der Bernadette Soubirous als „Schützenhilfe aus dem Himmel“ zu dienen.[109] In diesem Sinne hat ein Jahrhundert später auch Pius XII., wie bereits oben zitiert, Marias Erscheinen in Lourdes gedeutet. 

 

Die von Pius IX. nachhaltig geförderten marianischen Aktivisten strebten nach dem Dogma von 1854 eine weitere Stärkung der Stellung Mariens im Kosmos des katholischen Glaubens- und Lehrgebäude an. Sie wollten die von ihnen der Gottesmutter zugeschriebene Miterlöserschaft dogmatisiert sehen. In diesem Kontext stehen nicht zuletzt auch die Bemühungen der Sammler von Marienerscheinungen. Sie dokumentieren weniger das Faktum der Behauptung einer Erscheinung, als dass sie eine Erscheinung als Faktum zu dokumentieren suchen. Mit dem Dogma von der Aufnahme Mariens in den Himmel von 1950 aber wurde dieses Ziel nicht erreicht. Robert Ernst, der 1950 bekundet hatte, Maria auf ihrem Weg zur Dogmatisierung ihrer universalen Gnadenmittlerschaft assistieren zu wollen, bekannte sich 1985 zu der Auffassung, dass die Gottesmutter selbst dabei helfen könne, das kirchliche Lehramt bei Bedarf „zurecht zu biegen“.[110] 

 

Demgegenüber schien die Serie der Anerkennungen von Marienerscheinungen im 19. Jahrhundert[111] und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts[112] vorläufig an ein Ende gekommen zu sein. Keine der Erscheinungsberichte, die in den zwei Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg folgten und deren Zahl weitaus höher lag als in allen vergleichbaren Zeitspannen zuvor, hat die kirchliche Anerkennung gefunden. 

 

Zudem wurde während des Zweiten Vatikanischen Konzils Bestrebungen, die Stellung Mariens im dogmatischen Gebäude des katholischen Glaubens weiter zu stärken, mit der Abstimmung der Konzilsväter vom 29. Oktober 1963, der Joseph Kardinal Ratzinger den Charakter einer geistigen Wasserscheide zuwies, eine weitere Grenze gesetzt. Mit der knappen Mehrheit von 1114 zu 1074 Stimmen wurde der Gottesmutter kein eigenes Konzilsdokument gewidmet. Vielmehr wurde ihre Position im Heilsplan Gottes im Rahmen der Kirchenkonstitution definiert und auf diese Weise ekklesiologisch begrenzt. Das in der Kirchkonstitution Maria gewidmete Kapitel beschreibt ihre spezifische Aufgabe „streng entlang den biblischen Texten“ und bekräftigt, dass sie „der einzigen Mittlerschaft Christi strikt untergeordnet ist“.[113] Kardinal Frings hatte zuvor vorgeschlagen, man „solle sich darauf beschränken, den streng dogmatischen Boden abzustecken, auf dem alle gemeinsam stehen. Dann sei man nicht nur unangreifbar, sondern die Mariologie könne so auch geistlich und sogar ökumenische fruchtbar werden.“[114] Dieser „Sieg der ekklesiozentrischen Mariologie“ führte Joseph Kardinal Ratzinger zufolge „zum Kollaps der Mariologie überhaupt“.[115] Der „Ausbruch von Marienerscheinungen“ nach 1945 hatte Auswüchse und Gefahren sichtbar gemacht und „möglicherweise die Konzilsentscheidung zuungunsten der marianischen Fraktion“ beeinflusst.[116] 

 

Ob diese dogmatisch wichtige Entscheidung der Weltkirche von Dauer sein wird, wird erst die Zukunft noch erweisen müssen. Mit dem Pontifikat von Johannes Paul II., der in ähnlichem Maße marianisch geprägt war wie Pius IX., setzten die Wiederbelebung traditioneller marianischer Frömmigkeitsformen und die Anerkennung weiterer Marienerscheinungen ein. Die neue Entwicklung hatte kurz vor der Wahl des polnischen Papstes 1977 in Polen begonnen, wo der Bischof des Ermlands die Marienerscheinung von Dietrichswalde an ihrem 100. Jahrestag anerkannt und damit die Entscheidung seines 1877 amtierenden Vorgängers revidiert hatte.

 

Ein möglicher Schlüssel zum Verständnis Johannes Pauls II. liegt in seiner Verehrung für die Jungfrau von Fatima. In dem so genannten dritten Geheimnis von Fatima, dessen Text in hohem Maße von apokalyptischen Bildern geprägt ist, wurde die Ermordung des Papstes durch Soldaten vorausgesagt. Nach dem Attentat vom 13. Mai 1981 auf dem Petersplatz hat Johannes Paul II. nach Überzeugung enger Mitarbeiter diese Prophezeiung auf sich bezogen. Der Mordanschlag wurde nicht von Soldaten, wie es in der Prophezeiung heißt, verübt, sondern von einem einzelnen Attentäter, dem türkischen Rechtsextremisten Ali Agca. Sicher ist, dass der Papst seine Rettung auf das Eingreifen Mariens zurückführte, deren Hand die Kugel des Attentäters abgelenkt haben soll. Johannes Paul II. war angeblich davon überzeugt, dass Maria „ihm sagen wollte, dass es an ihm sei, ihre Forderungen und Wünsche aus der Botschaft von Fatima zu erfüllen, damit auch ihr Versprechen an die Menschheit wahr würde“.[117] 

 

Durch die Steigerung päpstlicher Reisetätigkeit in bis dahin nicht gekanntem Maße trug Johannes Paul II. die durch ihn neu belebte Marienverehrung in alle Teile der Welt. 1984 wurde die Marienerscheinung von 1973 in Akita (Japan), 2001 wurden Erscheinungen des Jahres 1981 in Ruanda anerkannt. Während des Pontifikats von Benedikt XVI. erkannte der Bischof von Gap in den französischen Alpen über 300 Jahre zurückliegende Erscheinungsberichte an, und unter Papst Franziskus wurde am 22. Mai 2016 eine Serie von Erscheinungen zwischen 1983 und 1991 in Argentinien anerkannt.

 

Das Tor zu dieser weltweiten Renaissance von Marienerscheinungen und zur Neubewertung von Marienerscheinungen aus den Tiefen des historischen Gedächtnisses hatte Johannes Paul II. geöffnet. Seine spektakuläre Entscheidung, den indigenen Seher Juan Diego 1990 selig und 2002 heilig zu sprechen, verschaffte der Erscheinungserzählung, die der weltweit größten Marienwallfahrtsstätte im mexikanischen Guadalupe zugrunde liegt, die päpstliche Legitimierung, um die sich die mexikanische Kirchenführung in den Jahrhunderten zuvor vergeblich bemüht hatte. Mit dieser Heiligsprechung wurde implizit die Juan Diego zuteil gewordene Marienerscheinung anerkannt, obwohl sie nach Auffassung des Abtes der Basilika von Guadalupe, in der sie verehrt wird, ebenso legendarischen Charakter hat wie der 2002 geschaffene Heilige. Die Bedeutung dieses Vorgangs reicht über die Frage der Glaubwürdigkeit des kirchlichen Umgangs mit marianischen Erscheinungen und kirchlicher Heiligenverehrung weit hinaus. Nach Auffassung des Abtes der Basilika von Guadalupe, der wegen seines Widerspruchs gegen die Heiligsprechung Juan Diegos  sein Amt verloren hat, betrifft sie die Integrität päpstlicher Unfehlbarkeit. 

 

 

VII. Die Kanonisierung von Juan Diego durch Papst Johannes Paul II.

 

Die Zweifel an der Authentizität der Erscheinung der Jungfrau von Guadalupe im Jahre 1531 konnten in Mexiko selbst nie beseitigt werden. Der Wunsch, diesen Zweifeln wirkungsvoll zu begegnen, mag erklären, warum die Kirchenleitung Mexikos 1974 den Vorschlag machte, Juan Diego, den Empfänger des wunderbaren Abbildes Mariens, zu kanonisieren. Der 1978 gewählte Papst zeigte sich für diesen Gedanken offen. Bei seiner ersten Reise nach Mexiko 1979 sprach Johannes Paul II. über Juan Diego, als handele es sich um eine historische Person.[118] 

 

Ein neues Gutachten über das Marienbildnis von Guadalupe

 

1982 wurde ein Gutachten über den Ursprung des in Guadalupe verehrten Marienbildnisses eingeholt, das 20 Jahre später öffentlich bekannt wurde.[119] Es hatte schon viele Expertisen über dieses Marienbildnis gegeben, aber diese neue wurde eigens im Kontext des Seligsprechungsverfahrens erstellt. Eine frühere Untersuchung hatte zu der Einschätzung geführt, dass ein begrenzt begabter Künstler ein kunstvolles Original kopiert hatte. Der nunmehr eingeschaltete Gutachter war José Sol Rosales, Experte für die Restauration von Kunstwerken. Sol Rosales kam zu dem Ergebnis, dass es sich bei dem Bildnis um das menschliche Werk eines Künstlers handelt, der die Materialien und Methoden des 16. Jahrhunderts zur Anwendung brachte. Der Abt der Basilika von Guadalupe, Guillermo von der Schulenburg Prado, hat dieses Gutachten eigener Aussage zufolge dem Generalrelator für die Causa Juan Diego, Battista Ré, persönlich übergeben. Im weiteren Verlauf der Kanonisierungsverfahren fand es allerdings keinerlei Erwähnung.[120] Davon unbeeindruckt schreiben auch deutsche Apologeten weiterhin, Untersuchungen des Mantels von Juan Diego hätten ergeben, dass seine Fasern „keine Farbe - jedenfalls keine irdischen Ursprungs“ - enthielten.[121] Zudem wird sogar behauptet, im Auge der auf dem Mantel abgebildeten Gottesmutter hätten sich die Spiegelbilder von Juan Diego und Bischof Juan de Zumárraga erhalten.[122] 

 

Die Anerkennung eines Kultes

 

Am 6. Mai 1990 wurde Juan Diego selig gesprochen. Von der mexikanischen Kirchenleitung wurde dies als Bestätigung der Existenz Juan Diegos und der ihm zuteil gewordenen Erscheinung verstanden. Nach Auffassung kircheninterner Kritiker aber blieb sie, genau besehen, in ähnlicher Weise hinter einer solchen Anerkennung zurück wie fast zweieinhalb Jahrhunderte zuvor die Approbation der Verehrung der Jungfrau von Guadalupe. Der 1963 vom Papst zum Abt der Basilika von Guadalupe ernannte Monsignore Guillermo von der Schulenburg Prado erläuterte diese seine Sicht im Rahmen eines Interviews. Die heutige, neue Basilika war unter seiner Verantwortung errichtet und 1976 geweiht worden, und in ihr wird das Abbild Mariens hinter einer schützenden Glasplatte ausgestellt. Dass ausgerechnet der Abt von Guadalupe sich gegen die Deutung der Seligsprechung als Anerkennung der Existenz Juan Diegos wandte, trieb die Kontroverse um die Ereignisse von 1531 ihrem Höhepunkt zu. Schulenburg erklärte während des Interviews mit der katholischen Zeitung Ixtus: „He’s a symbol, not a reality. It is not the recognition of the physical existence of the person. For the same reason it is not properly speaking a beatification. … Juan Diego is a tradition. … In summary there is no way of discovering his existence.“[123] Recherchen unterstützen diese Auffassung: „The decree did not formally beatify Juan Diego. It simply declared that a liturgical cultus to Juan Diego ‚as blessed’ was granted. (…). A Vatican bureaucrat called it a beatification in a minor key (en tono menor). Others called it aequipolenter, an ‚equivalent‘ beatification. At his first audience on his return to Rome, the pope said only that he had recognized the cultus of Juan Diego.“[124] 

 

Die Aussagen des Abtes von Guadalupe fanden in Mexiko zunächst wenig Beachtung. Aber die italienische Presse verwandelte sie in willkommenes Material für säkularistische Kritiker der Kirche. Die italienischen Schlagzeilen sorgten in Mexiko für großes Aufsehen und machten Schulenburg zum Feindbild aller, die sich als Verteidiger der mexikanischen Nation verstanden. In Mexiko ist die Auffassung verbreitet, dass dort sogar ein Kommunist ein guadalupano sei. Obwohl er wie seine Vorgänger vom Papst auf Lebenszeit berufen war, sah sich Schulenburg auf Druck des Erzbischofs von Mexiko City 1996 zum Rücktritt gezwungen. Zugleich erklärte der Erzbischof, dass er beim Papst für die Änderung der päpstlichen Statuten der Basilika sorgen werde, um sie künftig innerhalb der Strukturen der Erzdiözese führen zu können.[125] 

 

Eingaben gegen die Heiligsprechung

 

Nun war klar, dass die mexikanische Kirchenführung sich nicht mit der Seligsprechung Juan Diegos zufrieden geben würde. Damit aber sah sich Schulenburg herausgefordert, in die Offensive zu gehen. Ihn motivierte die Sorge, der Primat des Papstes könne durch die Heiligsprechung Juan Diegos Schaden nehmen. „The fact of an equivalent beatification does not compromise the pope’s authority. If he should canonize Juan Diego, that would be most serious, because in that case theologians would have to study whether the pope can or cannot be in error in a canonisation.“[126] Der nunmehr ehemalige Abt der Basilika von Guadalupe und weitere Theologen und Kirchenhistoriker, darunter Carlos Warnholtz, Erzpriester der Basilika, und Esteban Martin de la Serna, Bibliothekar der Basilika, schickten gemeinsam mehrere und je einzeln weitere Eingaben an die Kongregation für die Heiligsprechung und weitere Adressaten im Vatikan. Der Priester und Historiker Stafford Poole schrieb auch an Kardinal-Staatssekretär Sodano. Sie alle waren in Sorge um den drohenden Verlust der Glaubwürdigkeit ihrer Kirche und argumentierten, dass die Kanonisierung eines Kandidaten, dessen historische Existenz nicht gesichert sei, gegen die Kriterien für die Heiligsprechung verstoße.“[127] 

 

Der Kodex 1548 bzw. Kodex Escalada als Beweis für die Echtheit der Erscheinung von 1531

 

Unbeirrt verkündete Papst Johannes Paul II. am 31. Juli 2002 die Heiligsprechung von Juan Diego.

Entscheidend für das entsprechende Votum der zuständigen Kongregation war gewesen, dass es den Erscheinungsanhängern, den Apparitionisten, im August 1995 gelungen war, aus ungeklärter Quelle – angeblich aus der privatem Bibliothek eines anonymen Eigentümers – den so genannten „Kodex 1548“ zu präsentieren.[128] Dieses mysteriöse Dokument, das sie „quasi als ‚Todesurkunde Juan Diegos‘“ präsentierten,[129] enthält bildliche Darstellungen von zwei der Erscheinungen am Fuße des Tepeyac und zwei Unterschriften. Eine davon soll von dem Franziskaner Bernardino de Sahagún stammen, die andere - in Form einer Bildunterschrift - von dem gelehrten indigenen Konvertiten Antonio Valeriano, der mit einem Zusatz zu seinem Namen als Richter qualifiziert wird. Als Entdecker des Kodex trat der in Mexiko lebende spanische Jesuit Xavier Escalada auf, weshalb der Kodex 1548 auch als Kodex Escalada bekannt ist. Erst Jahre später, unmittelbar vor der Verkündung der Heiligsprechung, legte Escalada gegenüber der Zeitung Reforma die Quelle des bahnbrechenden Fundes offen: Ein bereits 1994 verstorbener, „ergebener Anhänger von Guadalupe“ habe im Jahre 1968 auf einem Sonntagsmarkt ein altes Buch über den Mantel des Juan Diego mit dem Abbild Mariens erworben und darin den Kodex entdeckt. Eine seiner Töchter habe ihm, Escalada, den Fund bekanntgemacht, und die Familie habe entschieden, ihn dem Erzbischof von Mexiko zu schenken.

 

Um den Wert dieses Kodex im Falle seiner Echtheit ermessen zu können, ist ein Blick in die mexikanische Geschichte notwendig. 

 

Bernardino de Sahagún, Missionar, Sprachwissenschaftler und Historiker, war 1529 nach Mexiko gekommen und zählte zu den Gründern der Missionsschule Santa Cruz von Tlatelolco.[130] Juan Diego, der sich der Legende zufolge am Tag der ersten Erscheinung Mariens, dem 9. Dezember 1531, auf dem Wege von seinem Heimatort Cuauhtitlan zur Messe und zur religiösen Unterweisung nach Tlatelolco befunden hat, wäre mithin einer der ersten indigenen Schüler Sahagúns gewesen. Sollte Sahagún nun tatsächlich seine Unterschrift unter ein Dokument des Jahres 1548 gesetzt haben, das die Existenz von Juan Diego und die ihm zuteil gewordene Marienerscheinung bewiesen, dann wäre es nicht zu erklären, dass er in seinem zwölfbändigen Werk über die mexikanische Geschichte, das er 1569 fertigstellte, nicht ein einziges Wort über seinen berühmt gewordenen Schüler und das ihm zuteil gewordene Wunder verloren hätte. Weiterhin ist festzustellen: Die Franziskanerschule von Tlatelolco wurde tatsächlich erst 1536 gegründet. 1531 befand sie sich noch in Cuauhtitlan, dem Juan Diego zugeschriebenen Heimatort. Juan Diego hätte sich also gar nicht auf den Weg nach Tlatelolco machen müssen, sondern hätte die Messe und die religiöse Unterweisung im heimatlichen Dorf wahrnehmen können. 

 

Antonio Valeriano wiederum war in der Tat einer der indigenen Mitarbeiter von Sahagún, wahrscheinlich der wichtigste, denn er lehrte Sahagún seine Sprache. Es trifft auch zu, dass er das Amt eines Richters bekleidete. Zeitweise war er, wie bereits erwähnt, auch Gouverneur eines Viertels von Mexico City. Das Amt eines Richters bekleidete er allerdings nicht 1548, sondern erst Jahre später. Wichtiger im Zusammenhang mit dem Kodex 1548 ist, dass Apparitionisten behaupten, dass Valeriano der wahre Autor des Nican mopohua wäre. Diese Auffassung ist verbreitet und hat ihren Weg auf eine Internetseite der FU Berlin gefunden.[131] Sie wird dadurch aber nicht richtiger. Andernfalls hätte Sahagún zweifellos davon erfahren und in seinen Chroniken darüber berichtet. 

 

Mit dem Kodex 1548 könnten im Falle seiner Echtheit alle wesentlichen Streitpunkte um den Nican mopohua geklärt werden. Xavier Escalada berief eine Expertenkommission, die 1997 Untersuchungen durchführte und eine Stellungnahme abgab. Diese Stellungnahme wertete die Heiligsprechungskongregation als Bestätigung seiner Echtheit. Indessen hatte nach späterer Darstellung des Leiters der Untersuchungskommission, des Physikers Víctor M. Castano,  Escalada dafür gesorgt, dass die Wissenschaftler nicht die Untersuchungsmethoden anwenden durften, die sie für notwendig gehalten hatten. So erklärte Castano am 5. Mai 2002 gegenüber der Zeitung Reforma: „We were very limited, it was like playing soccer with your legs tied and your eyes bandaged. The studies that we did are not definitively conclusive or exact, only indications.“[132] Abgesehen von seiner äußerst fragwürdigen Herkunft weist der Kodex mehrere Anachronismen und Inkonsistenzen auf. Der vermutlich beste Kenner der mit dem Kodex 1548 verbundenen Problematik spricht deshalb von einer „plumpen Fälschung“.[133] 

 

Bemerkungen zur Geschichte der Mission in Mexiko

 

Die Heiligsprechung von Juan Diego wird, wie bereits erwähnt, auch als Bestätigung der Auffassung dargestellt, dass die Gottesmutter durch ihre Erscheinung in Neu - Spanien den Übertritt der indigenen Völker zur Religion ihrer Eroberer verursacht hätte. So wird von der Konversion von 8 Millionen Azteken innerhalb von nur sechs Jahren gesprochen.[134] 

 

Die Ergebnisse der seriösen Forschung sehen anders aus. Zwar ist unbestritten, dass es in den ersten Jahren nach der Eroberung Mexikos zu Massentaufen kam. Diese beliefen sich aber insgesamt auf vielleicht einige Hunderttausend. Während die Bevölkerung Mexikos für das Jahr 1519 auf 25 Millionen geschätzt wird, hat sie sich infolge der aus Europa eingeschleppten Seuchen noch im selben Jahrhundert auf ca. eine Million reduziert.[135] Was die Tätigkeit von Juan de Zumárraga als Bischof und seit 1535 auch als Generalinquisitor betrifft, so hat sie sich ganz offensichtlich auf die Mission kontraproduktiv ausgewirkt, „denn die Zahl der Konvertiten unter der vorsichtig gewordenen Bevölkerung ging rapide zurück. (…) Die freiwillige Annahme der Taufe war oft nur eine Strategie, um möglichst unbehelligt weiterzuleben und dabei als überlebenswichtig erachtete Rituale so weit wie möglich beizubehalten. (…) Oft beklagten sich die Missionare in ihren Schriften darüber, dass Idolatrie und Aberglaube weiterlebten.“[136] Die „Furcht vor einem Wiederaufleben der vorchristlichen aztekischen Traditionen“ war sogar so groß, dass die spanische Krone es für nötig hielt, die Veröffentlichung des Geschichtswerkes von Bernardino de Sahagún zu verhindern, weil es „auf systematischen Befragungen einer Vielzahl von Informanten aus verschiedenen Landesteilen beruhte“ und gerade darum als Gefahr wahrgenommen wurde. So konnte es erst im Laufe des neunzehnten und zwanzigsten Jahrhunderts „gedruckt, übersetzt und wissenschaftlich kommentiert“ werden.[137] Durch das Neben- und Gegeneinander von Missionsanstrengungen und indigenem Beharrungsvermögen entstanden in Neu-Spanien „neue hybride Formen des Katholizismus, die auf einer Anpassungsleistung beider Seiten basierten. An diesem Zustand sollte sich bis zum Ende der Kolonialzeit und darüber hinaus nur wenig ändern.“[138] In diesem Sinne bekannt ist „die Annahme eines Weiterlebens vorchristlicher Anschauungen im Marienkult, wie er etwa in der Verehrung der Jungfrau von Guadalupe zum Ausdruck kommt.“[139] 

 

Aus der Perspektive der von andauernden Schwierigkeiten und Rückschlägen gekennzeichneten Missionsgeschichte könnte die Heiligsprechung einer fiktiven, aber als Folge des Kultes um die Jungfrau von Guadalupe notwendigen Gestalt eines konvertierten Indios als Versuch verstanden werden, das Weiterleben vorchristlicher Anschauungen im Marienkult wenigstens einen Schritt weit zu beenden. Ein wichtiges politisches Motiv könnte auch in dem Versuch gelegen haben, mit der höchstmöglichen Bestätigung des von seinen synkretistischen Elementen zu reinigenden Marienkultes, der wie kein anderer Kult bis heute die mexikanische Identität prägt, das seit den revolutionären Umwälzungen der Jahre 1910 bis 1920 schwierige Verhältnis zwischen dem mexikanischen Staat und dem Heiligen Stuhl zu verbessern. Ob mit der Heiligsprechung Juan Diegos die Integrität des päpstlichen Lehramtes berührt wurde, wie ihre Gegner argumentieren, muss im Rahmen dieser Analyse offenbleiben. Die Gründe für diese Sorge sind aber aus Sicht der Geschichtswissenschaft unbedingt nachvollziehbar.

 

 

VIII. Zusammenfassung und Wertung

 

Marienerscheinungen begleiten die Geschichte des Christentums bis heute. Ihre seriöse Erforschung hat erst relativ spät die in Zeiten von Aufklärung und Säkularisierung geprägte Polemik zwischen Anhängern und Gegnern abgelöst. Autoren wie David Blackbourn, Ruth Harris oder Monique Scheer widmeten sich nicht der Frage, ob eine Erscheinung wahr oder falsch ist, sondern sie interessierten sich dafür, warum sie in vielen Fällen geglaubt wird. Die vorlegende Studie konzentrierte sich auf die Frage, wie die heute vorliegenden Zeugnisse von marianischen Erscheinungen entstanden sind und welche Wirkung sie entfaltet haben. Dabei lag der Fokus auf den bedeutendsten unter den behaupteten Erscheinungsereignissen in der Geschichte der Marienverehrung: Guadalupe/Mexiko 1531, Paris 1830, La Salette 1846, Lourdes 1858 und Fatima 1917. Mit Blick auf Deutschland wurden die wichtigsten Nachahmungserscheinungen einbezogen: Marpingen 1876, Dietrichswalde 1877, Herorldsbach 1949. Konnte der Blick auf diese Ereignisse helfen, heutige Berichte von marianischen Erscheinungen besser zu verstehen? Ihre detaillierte Analyse konnte zeigen, dass die Entstehung von Marienerscheinungen nicht als ein punktuelles Ereignis, sondern als ein Prozess zu verstehen ist, in dem ihre Deutung bestimmt, mitunter geradezu ausghandelt wird. Das schließlich geglaubte Ereignis und die mit ihm übermittelte Botschaft kann von ihren Empfängern im Zusammenwirken mit ihren Interpreten über Wochen, Monate oder gar Jahre hinweg konstruiert worden sein. In diesem Prozess werden auch häufig Bilder und Botschaften früherer Erscheinungen reproduziert.

 

Die weltweit vermutlich bedeutendste Marienerscheinung, die der Jungfrau von Guadalupe in Mexiko, hat sich in vielfacher Hinsicht als ein besonderer Fall erwiesen. Zugrunde lag zwar ein punktuelles Erscheinungsereignis unweit der alten Aztekenhauptstadt Tenochtitlán in Neu-Spanien. Die ersten schriftlichen Belege für dieses Ereignis aber fanden sich erst im Abstand von fast 120 Jahren. Angesichts seiner Bedeutung als Ursprung der größten Wallfahrtsstätte der Christenheit galt es deshalb, den Entstehungsprozess dieser behaupteten Erscheinung einer sorgfältigen Prüfung zu unterziehen. Dabei wurde der Seher, dem dieses Ereignis zugeschrieben wurde, durch detaillierte Analyse der historischen Quellen als literarische Gestalt erwiesen, dessen Historizität alles andere als gesichert ist. Es konnte gezeigt werden, dass der Glaube an die Erscheinung der mexikanischen Jungfrau von Guadalupe auf traditionellen marianischen Überlieferungen aus dem Mittelalter basiert, die von den spanischen Conquistadoren in die Neue Welt gebracht worden waren. Eine dieser Traditionen war die  der Jungfrau von Guadalupe in der spanischen Provinz Estremadura. Durch zwei literarische Erzeugnisse aus der Mitte des 17. Jahrhunderts wurde ihr mit Hilfe einer fiktiven, in die früheste Epoche der christlichen Mission in Neu-Spanien zurückverlegte Erscheinungserzählung eine neue Grundlage gegeben, die nun nicht mehr spanisch, sondern kreolisch war und sich später als politisch außerordentlich wirkmächtig erwiesen hat. Auch für diese Erscheinungserzählung aber gilt, was von den in Europa besser bekannten Erscheinungen des 19. und des 20. Jahrhunderts ausgesagt werden kann: der Glaube an sie hat neben individuellen immer auch kollektive religiöse, soziale, kulturelle und politische Ursachen, wobei dazu insbesondere die Konfrontation der menschlichen Gemeinschaften mit Epidemien, Hungersnöten und Gewalterfahrungen zu zählen sind. 

 

Führt man sich die marianische Topographie vor Augen, d.h. eine Landkarte, in der bereits vorhandene marianische Verehrungsorte verzeichnet sind, und legt auf sie mehrere Folien übereinander, welche jeweils die Hungersnöte, die Seuchenepidemien und die Gefahren revolutionärer und kriegerischer Gewalt lokalisieren, dann kann man anhand der Verdichtungspunkte aus der Summe dieser verschiedenen Ereignisse erkennen und nachvollziehen, wo Marienerscheinungen vorrangig vorkamen und bei den gequälten und bedrohten Menschen auf bereitwillige Zustimmung stießen. Weiterhin zeigte die Untersuchung - wenn auch nicht immer in gleichem Maße -, dass der Entstehungsprozess erfolgreicher marianischer Erscheinungsberichte außer von Zufälligkeiten auch durch ein zielbewusstes Handeln geprägt war. Die möglichen Motive ließen sich aus individuellen und den genannten kollektiven Rahmenbedingungen wenn auch nicht „beweisen“, so doch wenigstens erhellen. 

 

Im Blick auf diese Motive kann für die untersuchten Erscheinungsereignisse folgendes festgestellt werden: Die im Vergleich mit Lourdes oder Fatima in Deutschland nahezu unbekannte mexikanische Erscheinungserzählung stellt sich als geradezu genialischer literarischer Kunstgriff zweier politisch motivierter kirchlicher Autoren dar. Die beiden Priester Miguel Sanchez und Laso da la Vega, beide Kreolen, d.h. in Neu-Spanien geborene Nachfahren der spanischen Eroberer, haben mit ihren Erscheinungserzählungen von 1648 und 1649 die verbreitete Mariengläubigkeit in Neu - Spanien für die Herausbildung und Stärkung des vom Mutterland abgegrenzten kreolischen Sonderbewusstseins in den Dienst genommen, aus dem sich später durch Einbeziehung der Indigenen das mexikanische Nationalbewusstsein entwickelte. 

 

In Lourdes war ebenfalls eine intensive Marienfrömmigkeit verbreitet gewesen. Der von Armut geprägte Ort war von überregional bekannten marianischen Erscheinungs- und Wallfahrtsorten umgeben. Die Verdichtung und Aktualisierung dieser Marienfrömmigkeit in der Erscheinungserzählung der bereits von Tuberkulose gezeichneten Bernadette Soubirous erwies sich für die Bewohner als ein geradezu gottgesegneter Ausweg aus extremer Armut. Dank der an Bernadette ergangenen Erscheinung hatte auch Lourdes eine Heilquelle, und sie übertraf bald die schon länger in der Region existierenden Kurorte an Popularität und wirtschaftlicher Bedeutung. Für die Kirche in Frankreich hingegen stellte Lourdes, mehr noch als die zuvor in Frankreich erfolgten Erscheinungen, ein Instrument ihrer Wiedererstarkung nach der Französischen Revolution dar. Das Papsttum hatte die Marienerscheinungen des 19. Jahrhunderts konsequent gefördert und sich damit ein Instrument der Weiterentwicklung des kirchlichen Lehramtes auf dem Wege zur päpstlichen Unfehlbarkeit geschaffen. 

 

Anhand der Nachfolgeerscheinungen von Lourdes im 1871 gegründeten und vom Kulturkampf erschütterten Deutschen Reich ließ sich zeigen, in welchem Maße staatliche Repression zur Entstehung marianischer Kulte beitragen konnte und wie dieselben sich trotz mangelnder kirchlicher Anerkennung in den Zeiten existentieller Gefährdungen durch Nationalsozialismus und Kommunismus auch in Orte katholischer Selbstbehauptung verwandelten. Im Falle des ermländischen Dietrichswalde im heutigen Polen erfolgte die bischöfliche Anerkennung dann 100 Jahre nach der behaupteten Erscheinung. 

 

Die besondere Bedeutung von Fatima schließlich ergab sich daraus, dass es kirchlichen Akteuren nach der Wiederaufrichtung der zuvor von kirchenfeindlichen Regierungen bedrohten portugiesischen Kirche im Zusammenwirken mit der Seherin Lucia gelang, den räumlichen und zeitlichen Wirkungsrahmen der Botschaft auf den Zweiten Weltkrieg und die Konfrontation Europas mit der Ideologie des Kommunismus hin auszudehnen. Im Zuge dieser Ausdehnung erweiterte sich die Botschaft in einem Maße, dass man im Grunde zwei Fatimas unterscheiden muss. Das erste stellte nicht viel anderes als ein portugiesisches Lourdes dar, das zweite aber ein religiöses Zentrum und Symbol, von dem ein Auftrag zur Bekehrung Russlands ausging. Dieser Auftrag führte in Verbindung mit  einem verzerrten Geschichtsbild, in welchem Russland bzw. der Sowjetunion die alleinige Schuld für den Zweiten Weltkrieg zugewiesen wurde, zu einer nachhaltigen politischen Instrumentalisierung der Marienfrömmigkeit im Zeichen des Antikommunismus. 

 

An diese Botschaft von Fatima konnte die deutsche Gesellschaft nach dem verbrecherischen und verlorenen Zweiten Weltkrieg geradezu nahtlos anknüpfen. Sie erleichterte die Rückbesinnung auf das Christentum, indem sie die Bildung einer von der Abwehr des Kommunismus geprägten Kontinuitätslinie ermöglichte, welche die eigene Schuldverstrickung in Weltkrieg und Holocaust auszublenden half. Im Kalten Krieg, der von politischer Konfrontation, militärischer Wiederaufrüstung und atomarer Bedrohung geprägt war, erneuerte sich die Gefahr, vor der die Jungfrau von Fatima gewarnt und gegen die sie Schutz versprochen hatte. Aus den Ängsten vor dem Kommunismus und befördert von der andauernden Popularität von Lourdes entstanden die spezifischen Rahmenbedingungen, aus denen sich elf Marienerscheinungen erklären, die während der ersten zehn Nachkriegsjahre allein im westlichen Teil Deutschlands registriert, aber nicht anerkannt wurden. Die deutschen Bischöfe haben in der Botschaft von Fatima eine Möglichkeit zur Reaktivierung der Gläubigen und zur Wiederaufrichtung der Kirche gesehen, sich ihre politische Instrumentalisierung aber nicht zu eigen gemacht. Auch nahmen sie Rücksicht auf die konfessionellen Verhältnisse in Deutschland.

 

In theologischer Hinsicht förderten marianische Organisationen und Aktivisten mit dem Fatimakult Bestrebungen, die, ausgehend vom Dogma der Unbefleckten Empfängnis, auf eine weitere Stärkung der Stellung Mariens im Lehrgebäude der katholischen Kirche zielten. Nachdem die Päpste Marienfrömmigkeit und Marienerscheinungen über mehr als ein Jahrhundert nachhaltig gefördert hatten, zog Pius XII., der 1942 und 1952 – möglicherweise ohne das wirklich zu wollen - die erweiterte Botschaft von Fatima legitimierte, den marianischen Aktivisten mit dem Dogma von der Aufnahme Mariens in den Himmel von 1950 doch insofern eine Grenze, als es gerade nicht die Miterlöserschaft Mariens dogmatisiert hat. 

 

In diesen Kontext gehört die Feststellung, dass die Serie von Anerkennungen marianischer Erscheinungen um das Jahr 1950 an ihr Ende gekommen schien, obwohl die Zahl behaupteter Erscheinungen nach 1945 weitaus höher lag als in allen Jahrhunderten zuvor. Auch im Zweiten Vatikanischen Konzil wurden dem Marianismus Grenzen gesetzt, indem der Gottesmutter kein eigenes Konzilsdokument gewidmet, sondern ihre Position im Heilsplan Gottes im Rahmen der Kirchenkonstitution definiert wurde. Diese dogmatisch wichtige Entscheidung der Weltkirche aber war nur mit der knappen Mehrheit der Konzilsväter getroffen worden. Von welcher Dauer sie sein wird, muss die Zukunft noch erweisen. 

 

Unter Johannes Paul II., der wie Pius IX. ein glühender Marienverehrer war und dessen intensive Reisetätigkeit dem Papsttum erstmals in der Geschichte eine wirklich globale Präsenz verlieh, setzte eine neue Reihe kirchlicher Anerkennungen marianischer Erscheinungen ein. Das Tor für die Bereitschaft der Bischöfe der Weltkirche, neue und selbst Jahrhunderte zurückliegende Erscheinungen anzuerkennen, hatte Johannes Paul II. mit einer überraschenden Selig- und Heiligsprechung geöffnet. Mit seiner spektakulären Entscheidung, den legendarischen indigenen Seher von Guadalupe in Mexiko, Juan Diego, 1990 selig und 2002 heilig zu sprechen, hat er implizit der für 1531 behaupteten Erscheinung eine päpstliche Anerkennung verliehen, welche die Kirchenführung Mexikos in den Jahrhunderten zuvor angestrebt, aber nicht erreicht hatte. Der Papst hatte im 18. Jahrhundert nicht die Erscheinung selbst anerkannt, wohl aber die Verehrung der Jungfrau von Guadalupe approbiert und sie zur Schutzpatronin erst Mexikos, dann ganz Neu - Spaniens erklärt. Zugleich hat Johannes Paul II. mit dieser Heiligsprechung einer Gestalt, deren historische Existenz nicht erwiesen ist, erneut die sich schon mit der Dogmatisierung der päpstlichen Unfehlbarkeit durch Papst Pius IX. stellende Frage aufgeworfen, ob die Entwicklung des kirchlichen Lehramts und der kirchlichen Glaubensverkündigung historisch fassbarer Grundlagen bedarf oder nicht. War das Zweite Vatikanische Konzil wirklich eine Versöhnung mit der Moderne, oder werden sich die Gläubigen – wie im 19. Jahrhundert – zwischen der Treue zu ihrer Kirche und einem Weltverständnis entscheiden, das längst auch von den modernen Wissenschaften geprägt ist?

 

 

 

Liste der benutzten Publikationen

 

Chapelle Notre-Dame de la Medaille Miraculeuse. Site officiel, https://www.chapellenotredamedelamedaillemiraculeuse.com/.

 

David Blackbourn: Wenn ihr sie wieder seht, fragt wer sie sei. Marienerscheinungen in Marpingen - Aufstieg und Niedergang des deutschen Lourdes, Hamburg 1997.

 

David Blackbourn: Marpingen: Marienerscheinungen in Deutschland, in: Hrsg. von  Landschaften der deutschen Geschichte. Aufsätze zum 19. und 20. Jahrhundert, Hrsg. von David Blackbourn, Göttingen 2016, S. 63 - S. 95.

 

Wolfgang Buchmüller: La Salette als prophetisches Interpretament für die Schicksalskrisen des

  1. Und 20. Jahrhunderts, in: 100 Jahre Fatima. Referate der ‚Internationalen Theologischen Sommerakademie 2017 des Linzer Priesterkreises, hrsg. von Helmut Prader, Kisslegg-Immenried 2018, S. 155 – S. 182.

 

Louise M. Burkhart: The Cult of the Virgin of Guadalupe in Mexico, in: South and Meso-American Native Spirituality: From the Cult of the Feathered Serpent to the Theology of Liberation, hrsg. von Gary H. Gossen und Miguel Leon-Portilla,   S. 198 - S. 227. (=World Spirituality: An Encyclopedic History of the Religious Quest, Bd. 4, New York, 1993).

 

Sam Dillon: Doubting Keeper of Mexico’s Guadalupe Shrine Is Stepping Down, The New York Times, 08.09.1996, https://www.nytimes.com/1996/09/08/world/doubting-keeper-of-mexico-sguadalupe-shrine-is-stepping-down.html.

 

Robert Ernst: Maria redet zu uns. Marienerscheinungen seit 1830, Wels, 4. Auflage 1950.

 

Robert Ernst: Lexikon der Marienerscheinungen, Walhorn 1985.

 

Peggy Goede: Guadalupekult, 12. Dezember 2011, https://www.lai.fu-berlin.de/e-learning/projekte/caminos/kulturkontakt_kolonialzeit/kirche_kolonialzeit/guadalupekult/index.html.

 

Ruth Harris: Lourdes. Body and Spirit in the Secular Age, London 1999.

 

Maximilian Heim: Fatima - Die Erscheinungen der Engel, in: 100 Jahre Fatima. Referate der ‚Internationalen Theologischen Sommerakademie 2017 des Linzer Priesterkreises, hrsg. von Helmut Prader, Kisslegg-Immenried 2018, S. 183 - S. 192.

 

Michael Hesemann: Das letzte Geheimnis von Fatima. Marienerscheinungen, der Papst und die Zukunft der Menschheit. Mit einem Vorwort von Joachim Kardinal Meisner und einem Nachwort von Kurt Kardinal Koch, Rottenburg 2016.

 

Michael Hesemann: Das Wunder von Guadalupe - Die Rolle der Gottesmutter in der Christianisierung Mittelamerikas, in: 100 Jahre Fatima. Referate der ‚Internationalen Theologischen Sommerakademie 2017 des Linzer Priesterkreises, Kisslegg-Immenried 2018,  hrsg. von Helmut Prader, S. 71 - S. 112.

 

Gottfried Hierzenberger und Otto Nedomansky: Erscheinungen und Botschaften der Gottesmutter Maria. Vollständige Dokumentation durch zwei Jahrtausende, Augsburg 1997.

 

Gottfried Korff: Kulturkampf und Volksfrömmigkeit, in: Volksfrömmigkeit in der modernen Sozialgeschichte, hrsg. von Wolfgang Schieder, Göttingen 1986. S. 137 – S. 151.

 

Michel Lloret CM: Von der Wunderbaren Medaille zum ‚Grünen Skapulier’ und zum ‚Roten Skapulier’: ‚Talismane’ oder ‚Zeichen’?, http://www.medaillenverein.at/index.php?id=56.

 

Bernhard Maier: Die Bekehrung der Welt. Eine Geschichte der christlichen Mission in der Neuzeit, München 2021.

 

Mischa Meier: Geschichte der Völkerwanderung. Europa, Asien und Afrika vom 3. bis zum 8. Jahrhundert n. Chr., München 2019.

 

Joe Nickell: Miraculous’ Image of Guadalupe, I Skeptical Briefs Volume 12.2, 1 Juni 2002, https://skepticalinquirer.org/newsletter/miraculous-image-of-guadalupe/.

 

Steffen Neumann: Ein Wunder, seine Kirche und die Folgen. Eine angebliche Marienerscheinung samt Krankenheilung lockt Tausende Pilger ins böhmische Filipov, in: Sächsische DE vom 11.01.2016; abrufbar unter https://www.saechsische.de/ein-wunder-seine-kirche-und-die-folgen3294517.html.

 

Otto Hermann Pesch: Das Zweite Vatikanische Konzil. Vorgeschichte – Verlauf – Ergebnisse – Nachgeschichte. Würzburg, 4. Auflage, 1996. 

 

Stafford Poole: The Guadalupan Controversies in Mexico, Stanford, California, 2006.

 

Stafford Poole: Our Lady of Guadalupe. The Origins of a Mexican National Symbol, 1531-1797, 2., überarbeitete Auflage, Tucson 2017.

 

Stefan Rinke: Kolumbus und der Tag von Guanahani. 1492 Ein Wendepunkt der Geschichte, Darmstadt 2013.

 

Stefan Rinke: Conquistadoren und Azteken. Cortés und die Eroberung Mexikos“, München 2019.

 

Der Spiegel: Kirche erkennt Marienerscheinungen nicht an, Meldung vom 14.12.2005,    https://www.spiegel.de/panorama/saarland-kirche-erkennt-marienerscheinungen-nicht-an-a390382.html

 

Kevin Sullivan: Myth Versus Miracle. Debate Rages Over Likely Canonization, in: The Washington Post, 5. Februar 2002, S. Co 1.

 

Monique Scheer: Rosenkranz und Kriegsvisionen. Marienerscheinungskulte im 20. Jahrhundert.  Tübingen 2006.

 

Klaus Schreiner: Maria. Jungfrau, Mutter, Herrscherin. München Wien 1994.

 

Kurly Tlapoyawa: An Immaculate Deception. The colonialist roots of La Virgen de Guadalupe, 16. Februar 2021, abrufbar unter https://kurlytlapoyawa.medium.com/an-immaculate-deception8f806550d371.

 

Marina Warner: Maria. Geburt, Triumph, Niedergang – Rückkehr eines Mythos? München 1982.

 

Hubert Wolf: Der Unfehlbare. Pius IX. und die Erfindung des Katholizismus im 19. Jahrhundert. München 2020. 

 

Helmut Zander: Maria erscheint in Sievernich. Plausibilitätsbedingungen eines katholischen Wunders, in: Wunder, Poetik und Politik des Staunens im 20. Jahrhundert. Hrsg. von Alexander C.T. Geppert und Till Kössler, Berlin 2011, S. 146 – S. 176.

 

 

[1] Vgl. Helmut Zander: Maria erscheint in Sievernich. Plausibilitätsbedingungen eines katholischen Wunders, in: Wunder, Poetik und Politik des Staunens im 20. Jahrhundert. Hrsg. von Alexander C.T. Geppert und Till Kössler, Berlin 2011, S. 146 – S. 176.

[2] Vgl. Mischa Meier: Geschichte der Völkerwanderung. Europa, Asien und Afrika vom 3. bis zum 8. Jahrhundert n. Chr., München 2019, S. 18.

[3] Vgl. Michael Hesemann: Das letzte Geheimnis von Fatima. Marienerscheinungen, der Papst und die Zukunft der Menschheit. Mit einem Vorwort von Joachim Kardinal Meisner und einem Nachwort von Kurt Kardinal Koch, Rottenburg 2016.

[4] Vgl. Michael Hesemann: Das Wunder von Guadalupe - Die Rolle der Gottesmutter in der Christianisierung Mittelamerikas, in: 100 Jahre Fatima. Referate der ‚Internationalen Theologischen Sommerakademie 2017 des Linzer Priesterkreises, Kisslegg-Immenried 2018,  hrsg. von Helmut Prader, S. 71 - S. 112.

[5] Vgl. Gottfried Hierzenberger und Otto Nedomansky: Erscheinungen und Botschaften der Gottesmutter Maria. Vollständige Dokumentation durch zwei Jahrtausende, Augsburg 1997, S. 10.

[6] Vgl. David Blackbourn: Wenn ihr sie wieder seht, fragt wer sie sei. Marienerscheinungen in Marpingen - Aufstieg und Niedergang des deutschen Lourdes, Hamburg 1997, S. 19.  

[7] Vgl. Ruth Harris: Lourdes. Body and Spirit in the Secular Age, London 1999, S. 21.  8 Vgl. David Blackbourn 1997, S. 80.

[8] Vgl. Monique Scheer: Rosenkranz und Kriegsvisionen. Marienerscheinungskulte im 20. Jahrhundert,  Tübingen 2006, S. 48.

[9] Vgl. Steffen Neumann: Ein Wunder, seine Kirche und die Folgen. Eine angebliche Marienerscheinung samt Krankenheilung lockt Tausende Pilger ins böhmische Filipov, in: Sächsische DE vom 11.01.2016; abrufbar unter https://www.saechsische.de/ein-wunder-seine-kirche-und-die-folgen-3294517.html. 11 Vgl. David Blackbourn 1997, S. 80.

[10] Vgl. Hubert Wolf: Der Unfehlbare. Pius IX. und die Erfindung des Katholizismus im 19. Jahrhundert, München 2020.

[11] Vgl. Stafford Poole: The Guadalupan Controversies in Mexico, Stanford, California, 2006, S. 152. Poole zitiert aus dem Interview Schulenburgs mit der katholischen Zeitschrift Ixtus: „’Theologically and biblically, what is an apparition? It is an interior phenomenon that by a special grace of God causes a man to see what no one sees and to hear what no one hears. He ist the only witness of his own experience.’“

[12] Vgl. Michael Hesemann 2016, S. 81. Der Autor ist eigener Aussage zufolge Mitglied des Ritterordens der Gottesmutter von Jasna Gora.

[13] Vgl. Robert Ernst: Lexikon der Marienerscheinungen, Walhorn 1985, S. 4. 16 Vgl. Robert Ernst 1985, S. 6.  

[14] Vgl. Gottfried Hierzenberger und Otto Nedomansky 1997, S. 10.

[15] Vgl. Gottfried Hierzenberger und Otto Nedomansky 1997, S. 9 f.

[16] Vgl. Gottfried Hierzenberger und Otto Nedomansky 1997,  S. 21f.

[17] Vgl. Gottfried Hierzenberger und Otto Nedomansky 1997, S. 10.

[18] Vgl. Robert Ernst: Maria redet zu uns. Marienerscheinungen seit 1830, 4. Auflage 1950, S. 16. 22 Vgl. Robert Ernst 1950, S.11.

[19] Vgl. Robert Ernst 1950, S.15.

[20] Vgl. Robert Ernst 1950, S. 11, Fußnote 6.

[21] Vgl. Robert Ernst 1950, S. 18.

[22] Vgl. Robert Ernst 1985, S. 6.

[23] Vgl. Gottfried Hierzenberger und Otto Nedomansky 1997, S. 41.

[24] Soweit nicht anders vermerkt, vgl. Stefan Rinke: Conquistadoren und Azteken. Cortés und die Eroberung Mexikos, München 2019.

[25] Vgl. Gottfried Hierzenberger und Otto Nedomansky 1997, S. 124. Maria wird hier zitiert - wie häufig in der apologetischen Literatur -, ohne dass darüber informiert wird, welchem Text das Zitat entnommen ist.

[26] Vgl. Stafford Poole: Our Lady of Guadalupe. The Origins of a Mexican National Symbol, 1531-1797, 2., überarbeitete Auflage, Tucson 2017, S. 110.

[27] Vgl. Stafford Poole 2017, S. 116.

[28] Vgl. Stafford Poole 2017, S. 24 – S. 26.

[29] Vgl. Kury Tlapoyawa: An Immaculate Deception. The colonialist roots of La Virgen de Guadalupe, 16. Februar 2021, abrufbar unter https://kurlytlapoyawa.medium.com/an-immaculate-deception-8f806550d371. 34 Vgl. Stafford Poole 2017, S. 71.

[30] Vgl. Kury Tlapoyawa, 2021.  

[31] Vgl. Louise M. Burkhart: The Cult of the Virgin of Guadalupe in Mexico, in: South and Meso-American Native Spirituality: From the Cult of the Feathered Serpent to the Theology of Liberation, hrsg. von Gary H. Gossen und Miguel Leon-Portilla,   S. 198 - S. 227. (=World Spirituality: An Encyclopedic History of the Religious Quest, Bd. 4, New York, 1993).

[32] Soweit nicht anders angegeben, vgl. Stafford Poole 2017, S. 136 - S. 158.

[33] Vgl. Michael Hesemann 2018, S. 8.

[34] Vgl. Stafford Poole 2017, S. 187f.  

[35] Vgl. Stafford Poole 2017, S. 74 – S. 76.

[36] Vgl. Stafford Poole 2017, S. 190.  

[37] Vgl. Stafford Poole 2017, S. 206 - S. 209.

[38] Vgl. Stefan Rinke 2019, S. 13.

[39] Vgl. Stefan Rinke 2019, S. 18.

[40] Vgl. Kury Tlapoyawa 2021.

[41] Vgl. Stafford Poole 2017, S. 112f.

[42] Vgl. Stafford Poole 2017, S. 189. 

[43] Vgl. Kury Tlapoyawa 2021.

[44] Vgl. David Blackbourn 1997, S. 58.

[45] Vgl. David Blackbourn 1997, S. 40. 51 Vgl. David Blackbourn 1997, S. 47.

[46] Vgl. David Blackbourn: Marpingen. Marienerscheinungen in Deutschland. In: David Blackbourn: Landschaften der deutschen Geschichte. Aufsätze zum 19. und 20. Jahrhundert, Göttingen 2016, S. 63 - S. 95, hier S. 70f. 53 Vgl. Hubert Wolf 2020, S. 215f.

[47] Vgl. Chapelle Notre Dame de la Medaille Miraculeuse. Site officiel, https://www.chapellenotredamedelamedaillemiraculeuse.com/langues/deutsch/die-erscheinungen-und-die-medaille/). 55 Vgl. David Blackbourn, S. 65f.

[48] Vgl. Gottfried Hierzenberger und Otto Nedomansky 1997, S. 191.

[49] Die Geschichte der Marienverehrung sowie der Passions- und Herz-Jesu-Frömmigkeit kennt das Große Skapulier, das Teil des Ordensgewandes vieler Ordensgemeinschaften darstellt, und kleine Skapuliere, die außer von Geistlichen auch von Laienbruderschaften getragen werden können. Die Bildnisse und Farben, die seit Jahrhunderten von den Ordensgemeinschaften verwendet werden, stehen für unterschiedliche Bedeutungen, so z.B. ein weißes der Trinitarier seit 1200 oder das blaue zu Ehren der Unbefleckten Empfängnis Mariens der Theatiner seit 1691. Bei dem „Grünen Skapulier vom Unbefleckten Herzen Mariens“ handelt es sich um je ein Bild Mariens und ihres Herzens, wobei beide Bilder durch grünen Stoff verbunden sind, der den Schutzmantel Mariens symbolisiert. Das Grüne Skapulier sollte

[50] Vgl. Gottfried Hierzenberger und Otto Nedomansky 1997, S. 200 - S. 204.  63 Vgl. Hubert Wolf 2020, S. 170 – S. 172.

[51] Vgl. Ruth Harris 1999, S. 33.

[52] Vgl. Ruth Harris 1999, S. 31.

[53] Vgl. David Blackbourn 1997, S. 57.  

[54] Vgl. Ruth Harris 1999, S. 45.

[55] Vgl. David Blackbourn 1997, S. 58.

[56] Vgl. Ruth Harris 1999, S. 39-44.

[57] Vgl. Ruth Harris 1999, S. 61 f.

[58] Vgl. für die folgende Darstellung Ruth Harris 1999, S. 3 - S. 22.

[59] Vgl. Monique Scheer 2006, S. 295.

[60] Vgl. Ruth Harris 1999, S. 5.  

[61] Es bestanden im 19. Jahrhundert vielfältige Beziehungen nach Mittel- und Südamerika. So Armutsmigranten aus der Region wanderten nicht nach Paris, sondern in die spanisch geprägten Länder Amerikas aus. Es ist daher nicht ausgeschlossen zu spekulieren, ob Peyramale die Forderung nach einem solchen Bestätigungswunder aus der Erscheinungserzählung von Guadalupe/Mexiko bekannt war.

[62] Vgl. Ruth Harris 1999, S. 110 - S. 135.

[63] Vgl. David Blackburn 1997, S. 84.

[64] Vgl. Ruth Harris 1999, S. 92 - S. 102, für das Zitat S. 101. Übersetzung durch den Verfasser.

[65] Vgl. Ruth Harris 1999, S. 132. Übersetzung durch den Verfasser. 79 Vgl. Ruth Harris 1999, S. 129.  

[66] Vgl. Ruth Harris 1999, S. 132.

[67] Vgl. Ruth Harris 1999, S. 83.

[68] Vgl. Ruth Harris 1999, S. 72 - S. 82 und S. 190.

[69] Vgl. Monique Scheer 2006, S. 14, Fußnote 8. 84 Vgl. David Blackbourn 1997, S. 207.

[70] Vgl. David Blackbourn 1997, S. 176

[71] Vgl. David Blackbourn 1999 S. 546 - S. 552.

[72] Vgl. David Blackbourn 1997, S. 538. 88 Vgl. David Blackbourn 1997, S. 542.

[73] Vgl. David Blackbourn 1997, S. 555. 90 Vgl. David Blackbourn 1997, S. 583.

[74] Vgl. die Spiegel-Meldung vom 14. Dezember 2005: Kirche erkennt Marienerscheinungen nicht an, abrufbar unter https://www.spiegel.de/panorama/saarland-kirche-erkennt-marienerscheinungen-nicht-an-a-390382.html).  92 Vgl. Monique Scheer 2006, S. 53 - S. 55.

[75] Vgl. Michael Hesemann 2016, S. 37 - S. 81; Gottfried Hierzenberger und Otto Nedomansky 1997, S. 250-260; Robert Ernst, 1985, S. 85.

[76] Vgl. Maximilian Heim: Fatima - Die Erscheinungen der Engel, in: Helmut Prader (Hrsg.): 100 Jahre Fatima. Referate der ‚Internationalen Theologischen Sommerakademie 2017 des Linzer Priesertkreises, Kisslegg-Immenried 2018, S. 183 - S. 192, hier S. 184.

[77] Sofern nicht anderes  vermerkt, folgt die nachfolgende Darstellung Monique Scheer 2006, S. 43 - S. 78.

[78] Vgl. Monique Scheer 2006, S. 55, Nachweis dort unter Fußnote 52.

[79] Die Diözese war 1881 aufgelöst und dem Erzbistum Lissabon zugeschlagen worden. 98 Vgl. Monique Scheer 2006, S. 57.

[80] Vgl. Michael Hesemann 2016, S. 58.

[81] Vgl. Maximilian Heim 2018, S. 183.

[82] Vgl. Monique Scheer 2006, S. 59.

[83] Vgl. Monique Scheer 2006, S. 61, dort Fußnote 76.

[84] Vgl. Monique Scheer 2006, S. 61, dort Fußnote 75.

[85] Vgl. Monique Scheer 2006, S. 62f.

[86] Vgl. Monique Scheer 2006, S. 62, dort Fußnote 79. Eine Marienweihe ist eine Gebetsform, „die ein besonderes Segens- und Schutzverhältnis herzustellen beabsichtigt“; sie ist „eine Frömmigkeitspraxis für des Individuum“, kann aber „auch stellvertretend für ein Kollektiv von religiösen Würdenträgern ausgesprochen werden“. Vgl. Monique Scheer 2006, S. 124.

[87] Vgl. Monique Scheer, S. 64, dort Fußnote 86.

[88] Vgl. Maximilian Heim 2018, S. 187 Der „Engel des Friedens“ soll sie Gebete gelehrt haben, welche die Kinder wiederholten, bis sie „vor Müdigkeit umfielen“. Vgl. ebenda. Die apologetische Literatur stellt diese Engelserscheinungen als Präfigurationen der marianischen Erscheinungen von 1917 dar. Sie steht deshalb vor dem Problem, dass die Kinder 1917 nichts von ihnen berichtet hatten, und kommt zu der wenig überzeugenden Erklärung, dass „das Bild des Engels und seine Empfehlungen … in der Weite eines einfachen, sorgenfreien und erlebnisreichen Kinderlebens“ verhallt wären. Vgl. Michael Hesemann 2016, S. 36. 

[89] Vgl. Monique Scheer 2006, S. 66 - S. 67, dort Fußnote 92.

[90] Vgl. Michael Hesemann 2016, S. 141 - S. 146.

[91] Vgl. Michael Hesemann 2016, S. 149; Gottfried Hierzenberger und Otto Nedomansky 1997, S. 263f.

[92] Vgl. Michael Hesemann 2016, S. 368 - S. 380.

[93] Vgl. Gottfried Hierzenberger und Otto Nedomansky 1997, S. 374.

[94] Vgl. Monique Scheer 2006, S. 130, Nachweis dort Fußnote 42.

[95] Vgl. Monique Scheer 2006, S. 131, Nachweis dort Fußnote 44.  

[96] Vgl. Gottfried Hierzenberger und Otto Nedomansky S. 367. Auch in Niederhabach hat Maria ihr mehrmaliges Erscheinen am 8. September 1952 durch eine rotierende Sonne beglaubigt, vgl. Gottfried Hierzenberger und Otto Nedomansky S. 380.

[97] Vgl. Monique Scheer 2006, S. 227, dort Fußnote 304.

[98] Vgl. Monique Scheer 2006, S. 231.

[99] Vgl. Monique Scheer 2006, S. 244.

[100] Vgl. Monique Scheer 2006, S. 245, Fußnote 407.

[101] Vgl. Gottfried Korff: Kulturkampf und Volksfrömmigkeit, in: Volksfrömmigkeit in der modernen Sozialgeschichte, hrsg. von Wolfgang Schieder, Göttingen, 1986, S. 137 – S. 151.

[102] Vgl. Hubert Wolf: Der Unfehlbare. Pius IX. und die Erfindung des Katholizismus im 19. Jahrhundert, München 2020, S. 113.

[103] Vgl. David Blackbourn S. 83.

[104] Vgl. Hubert Wolf 2020, S. 187 - S. 214, hier S. 204.

[105] Vgl. Hubert Wolf 2020, S. 187 - S. 214, hier S. 204.

[106] Vgl. Hubert Wolf 2020, S. 212. Wolf zitiert aus dem Brief von Professor Knoodt vom 10. Juli 1866 an Ignaz von Döllinger, in dem Knoodt die Bewertung des Dogmas durch den päpstlichen Geheimkämmerer Monsignore George Talbot wiedergab, die dieser ihm unmittelbar vor dessen Verkündigung dargelegt hatte.  

[107] Vgl.  Hubert Wolf 2020, S. 213, Fußnote 63.

[108] Vgl. Hubert Wolf 2020, S. 213.

[109] Vgl. Hubert Wolf, S. 214.

[110] Vgl. Robert Ernst 1985, S. 6.

[111] Paris, La Salette, Lourdes, Pontmain, Pellevoisin und Knock.

[112] Fatima, Beauraing und Banneaux.

[113] Vgl. Otto Hermann Pesch: Das Zweite Vatikanische Konzil. Vorgeschichte – Verlauf – Ergebnisse – Nachgeschichte. Würzburg, 4. Auflage, 1996, S. 195.

[114] Vgl. Otto Hermann Pesch 1996, S. 194.

[115] Vgl. Monique Scheer 2006, S. 416, dort Fußnoten 6 und 7.

[116] Vgl. Monique Scheer 2006, S. 416f.

[117] Vgl. Michael Hesemann 2016, S. 15.  

[118] Vgl. Stafford Poole 2006, S. 140.

[119] Vgl. Joe Nickell: Miraculous’ Image of Guadalupe, I Skeptical Briefs Volume 12.2, 1 Juni 2002, https://skepticalinquirer.org/newsletter/miraculous-image-of-guadalupe/).

[120] Vgl. Stafford Poole2006, S. 131.

[121] Vgl. Gottfried Hierzenberger und Otto Nedomansky 1997, S. 26 und S. 128.

[122] Vgl. Hesemann 2018, S. 209 - S. 2012.  

[123] Vgl. Stafford Poole 2006, S. 152f. Zu Deutsch: Er ist ein Symbol, keine Realität. Diese Seligsprechung ist die Anerkennung eines Kultes. Sie ist nicht die Anerkennung der physischen und realen Existenz einer Person. Aus dem gleichen Grunde handelt es sich genau genommen nicht um eine Seligsprechung. (…) Juan Diego ist eine Tradition. Übersetzung vom Verfasser.

[124] Vgl. Stafford Poole 2006, S. 150 f.

[125] Vgl. Sam Dillon: Doubting Keeper of Mexico’s Guadalupe Shrine Is Stepping Down“, The New York Times, 08.09.1996, https://www.nytimes.com/1996/09/08/world/doubting-keeper-of-mexico-s-guadalupe-shrine-is-stepping-down.html.

[126] Vgl. Stafford Poole 2006, S. 153.

[127] Vgl. Stafford Poole 2006, S. 161 - S. 190 und S. 239 - S. 248, hier S. 247: „Is it perhaps a matter of faith to accept the authenticity of this canonization, which as we learned in theology, should be considered a ‚dogmatic fact‘? Is it possible, by way of theology, to arrive at the historic truth of an ‚event‘ that could not be proved by way of the documentation that gives uns moral certitude?“ Vgl. auch  Kevin Sullivan: Myth Versus Miracle. Debate Rages Over Likely Canonization, in: The Washington Post, 5. Februar 2002, S. Co1.  

[128] Vgl. Stafford Poole 2017, S. 179 - S. 183.

[129] Vgl. Hesemann 2018, S. 98.

[130] Vgl. Bernhard Maier: Die Bekehrung der Welt. Eine Geschichte der christlichen Mission in der Neuzeit, München 2021, S. 61.

[131] Vgl. Peggy Goede: Guadalupekult, 12. Dezember 2011, https://www.lai.fu-berlin.de/e lear ing/projekte/caminos/kulturkontakt_kolonialzeit/kirche_kolonialzeit/guadalupekult/index.html.

[132] Vgl. Stafford Poole 2017, S. 182. Poole zitiert Caetano nach Antonio Bertrán: Arrojan Nuevos Datos Sobre ‚Codice 48’, in: Reforma, 5. Mai 2002.

[133] Vgl. Stafford Poole 2017, S. 14 und S. 183.

[134] Vgl. Michael Hesemann 2018, S. 71 - S. 112, hier 75.

[135] Vgl. Stefan Rinke 2019, S. 320.  

[136] Vgl. Stefan Rinke 2019, S. 318 - S. 320.

[137] Vgl. Bernhard Maier: Die Bekehrung der Welt. Eine Geschichte der christlichen Mission in der Neuzeit, München 2021, S. 61f.

[138] Vgl. Stefan Rinke 2019, S. 320.

[139] Vgl. Bernhard Maier, S. 60.